Am 29. April starb JOANNA RUSS im Alter von 74 Jahren. DAGMAR FINK vermisst die Pionier_in der queeren Science Fiction jedoch schon länger, denn Russ hat in den letzten Jahren nicht mehr viel veröffentlicht. Ein Nachruf.
1937 in New York geboren, graduierte Russ 1960 an der Yale Drama School. Nachdem sie mehrere Jahre an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten unterrichtet hatte, war sie bis zu ihrer Pensionierung Professor_in an der University of Washington in Seattle. Anschließend lebte sie bis zu ihrem Tod in Tucson, Arizona.
Joanna Russ begann in den späten 1950er Jahren, Science Fiction (SF) zu veröffentlichen, ihre erste feministische Figur schuf sie zwischen 1967 und 1970 mit „Alyx“ (Picnic on Paradise, The Adventures of Alyx). Alyx ist klug, intelligent, hart, abgebrüht und sinnlich. Sie ist außerdem Agentin, Mörderin und nicht hübsch. Alyx zu erschaffen, beschreibt Russ selbst als Durchbruch. Es ging nicht nur darum, eine Figur zu kreieren, die den vorherrschenden Stereotypen in der SF etwas entgegensetzt, sondern zuallererst darum, die eigene Vorstellungskraft von weiblichen Figuren aus den Fesseln eben jener Stereotype zu befreien.
The Inner Space. Russ’ Erzählungen und Romane sind für die queer-feministische Strömung wie auch für die New Wave in der SF von zentraler Bedeutung. Die New Wave, zu der Russ gerechnet wird, verstand SF weniger als „Science“ denn als „Speculative Fiction“. So ging es auch nicht so sehr darum, den Weltraum zu explorieren, sondern vielmehr den „inner space“ – also Charaktere und Gesellschaftsstrukturen. Die New Wave zeichnet sich außerdem durch ihr Experimentieren mit komplexen Plots, Erzählstrukturen, Stil und Sprache aus.
Russ’ Arbeit ist von der Auseinandersetzung mit Geschlecht, Sexualität und heteronormativen Strukturen geprägt. Dabei zeichnen sich sowohl ihre literarischen wie auch ihre theoretischen Texte durch sprachliche und analytische Brillanz, Ironie und Witz aus. Mich beeindruckt immer wieder aufs Neue, wie es ihr gelungen ist, die Grenzen dessen, was überhaupt an Weiblichkeiten denkbar ist, einerseits präzise auszuloten und andererseits beständig, unerschütterlich und humorvoll zu verschieben. In „The Image of Women in Science Fiction“ (1) weist Russ darauf hin, dass SF als spekulatives Genre sich nicht damit beschäftigt, was ist, sondern damit „was wäre, wenn“. In der SF geht es nicht darum, wie die Dinge sind, sondern wie sie sein könnten.
Bibliographie:
Romane:
Picnic on Paradise (1968; deutsch: Alyx, 1983)
And Chaos Died (1970; deutsch: Und das Chaos starb, 1974)
The Female Man (1975; deutsch: Planet der Frauen, 1979 und: Eine Weile entfernt, 2000)
We Who Are About To… (1977; deutsch: Wir, die wir geweiht sind …, 1984)
Kittatinny: A Tale of Magic (1978; Kinderbuch)
The Two of Them (1978; deutsch: Die Frauenstehlerin, 1982 und: Zwei von ihnen, 1990)
On Strike Against God (1980; deutsch: Aufstand gegen Gott, 1983; keine SF, sondern Geschichte über Coming-Out und gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Lesben)Gesammelte Erzählungen:
The Adventures of Alyx (1976; 1986)
The Zanzibar Cat (1983)
Extra(Ordinary) People (1985)
The Hidden Side of the Moon (1987)Fachliteratur:
Speculations on the Subjunctivity of Science Fiction (1973)
Somebody’s Trying to Kill Me and I Think It’s My Husband: The Modern Gothic (1973)
How to Suppress Women’s Writing (1983)
Magic Mommas, Trembling Sisters, Puritans & Perverts: Feminist Essays (1985)
To Write Like a Woman: Essays in Feminism and Science Fiction (1995)
What Are We Fighting For? Sex, Race, Class, and the Future of Feminism (1998)
The Country You Have Never Seen (2008)Auszeichnungen und Ehrungen:
1972 Nebula Award für die Kurzgeschichte „When It Changed“, auf der „The Female Man“ basiert
1983 Hugo Award und Locus Award für die Erzählung „Souls“
1988 Pilgrim Award
1996 James Tiptree, Jr. Award
What Can a Heroine Do? Tatsächlich bleiben die Spekulationen über Geschlecht, Geschlechterverhältnisse, Sexualität, soziale Beziehungen und generative wie gesellschaftliche Reproduktion in der SF jedoch weit hinter Spekulationen über Technologie-Entwicklungen zurück. Vielmehr werden, so Russ in „The Image of Women in Science Fiction“, vorwiegend intergalaktische Vororte beschrieben, d.h. Geschlechterverhältnisse, wie sie für „weiße“ Mittelklasse-Vororte in den USA charakteristisch sind bzw. waren. Alternativ beschreiben weniger anspruchsvolle Werke eine Rückkehr in eine idealisierte und vereinfachte Vergangenheit, in der ökonomisch und sozial feudale Strukturen mit Geschichten über richtige Kerle und deren kosmische Rivalitäten und Eroberungen einhergehen. Frauenfiguren erfüllten in diesen Geschichten wichtige Funktionen als Preis oder als Motiv (Prinzessinnen, die gerettet oder erobert werden müssen), aktive und ehrgeizige Frauenfiguren hingegen seien immer böse.
Darüber hinaus gebe es dann noch Erzählungen, in denen Gleichsein bedeute, das gleiche zu tun: Sowohl weibliche als auch männliche Figuren gehen kompetent ihrer Arbeit nach. Das sei jedoch lediglich eine Reflexion der Wirklichkeit, keine Spekulation über eine mögliche Zukunft. Interessanterweise, so Russ, lassen diese Erzählungen die persönlichen und erotischen Beziehungen der Charaktere aus, ebenso wenig wird beschrieben, wie und von wem Kinder groß gezogen werden. Damit – so Russ – stellen sich diese Erzählungen nicht dem wirklichen Problem, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der Geschlecht keine Rolle spielt: „Das ist die ganze Schwierigkeit der Science Fiction, der echten Kreativität: Wie entkommt man den traditionellen Gegebenheiten, die nicht mehr sind als traditionelle Zwangsjacken.“ (2)
In „What Can a Heroine Do? or Why Women Can’t Write“ beschreibt Russ, dass Held_innen in der Literatur im Wesentlichen zwei Optionen haben: heiraten oder wahnsinnig werden. Um den zwei zur Verfügung stehenden Geschichten – „How She Fell in Love (the Love Story)“ und „How She Went Mad“ – zu entgehen, schlägt sie vor, es mit neuen Mythen in anderen Genres, wie Krimis und SF, zu probieren. „The Clichés from Outer Space“ (1984) ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Russ auch in der Literaturkritik mit literarischen Mitteln arbeitet, beispielsweise wenn sie Überschriften für typische SF-Plots findet, wie „The Weird Ways of Getting Pregnant Story“ oder „The Talking About It Story“, in der sich alle versichern, wie furchtbar es wäre, in einer rassistischen, patriarchalen und heteronormativen Welt zu leben, während sie ebendies tun.
Jael, Jeannine, Janet und Joanna. Das mit Sicherheit meist gelesene und besprochene Werk von Joanna Russ ist zugleich auch mein Lieblingsroman von ihr: „The Female Man“ von 1975. Die vier Protagonist_innen haben den gleichen Genotyp, leben jedoch in unterschiedlichen Welten und sind entsprechend auch unterschiedliche Personen. Jeannine und Joanna leben in zwei verschiedenen Varianten der gegenwärtigen USA (also der siebziger Jahre), in denen patriarchale Strukturen wahlweise unangefochten vorherrschen bzw. (noch) wenig erfolgreich von der Zweiten Frauenbewegung bekämpft werden. Janet lebt im utopischen Whileaway, einer Welt, in der nur Weiblichkeiten friedlich und harmonisch miteinander leben. Jael schließlich kommt aus einer nahen Zukunft, in der Männer und Frauen in getrennten Ländern leben und sich gegenseitig bekriegen. Jael von Jeannine, Janet und Joanna zu trennen, ist ein Kunstgriff des Romans, denn die vier Jots gehören zusammen, bilden aber dennoch kein Ganzes. Vielmehr stellt jede eine Möglichkeit des Lebens als „weiblicher Mensch“ in einer spezifischen Gesellschaft dar bzw. die Unmöglichkeit, in der zeitgenössischen Gesellschaft ein „weiblicher Mensch“ zu sein. Fasziniert hat mich weniger die Schilderung des lesbischen Utopia auf Whileaway als vielmehr die Darstellung der kriegerischen und aggressiven Jael. Während es (1975) unmöglich erscheint, weibliche Figuren zu denken, die geschäftsmäßig morden, sexuell aggressiv sind, penetrieren, ohne Männer auskommen, sich selbst genug sind, beschreibt Russ nicht nur guten lesbischen Sex (den hat Janet), sondern auch eine Frauenfigur, die eine Männerfigur fickt.
Fußnoten:
(1) „The Image of Women in Science Fiction“; in: Susan Koppelman Cornillon (Hg.in): Images of Women in Fiction: Feminist Perspectives.“ . 1972, S. 79-94 (dt. „Das Frauenbild in der Science Fiction“; in: Barbara Holland-Cunz (Hg.in): „Feministische Utopien – Aufbruch in die postpatriarchale Gesellschaft“. 1986, S. 13-29.
(2) Joanna Russ, „Das Frauenbild in der Science Fiction“, S. 24f.
In Russ‘ ausgiebiger Schilderung einer Sexszene wird kein verwundbarer weiblicher Körper penetriert, eine aggressive Amazone spielt mit ihrem niedlichen Lustobjekt, ihre Vagina schluckt dessen Schwanz, während sie – als besondere Zugabe – den Anus ihres Geliebten mit dem Finger penetriert. Das habe ich vermisst und werde ich nun weiterhin schmerzlich vermissen: diese beharrliche, wütende, ironische Arbeit an Geschlechterstereotypen, deren analytisch brillante, scharfzüngige Herausarbeitung sowie die vergnügt verwegene, kühne Erweiterung dessen, was wir uns überhaupt an weiblichen Figuren und anderen Geschlechterrepräsentationen vorstellen können. Das konsequente Denken der Verwobenheit von Geschlecht, Sexualität, Klasse und Rassisierung und das Insistieren auf der zentralen politischen Bedeutung von intimen, erotischen und Reproduktionsverhältnissen werden mir fehlen.
Dagmar Fink ist Literatur- und Kulturwissenschafter_in mit Arbeitsschwerpunkten auf Queer Theory, Cyborg-Konzepte, queere Populärkulturen u.v.m. Außerdem Übersetzer_in im queer_feministischen Kollektiv „gender et alia“ (http://genderetalia.sil.at).