Sexualisierte Gewalt gegen protestierende Frauen wird in Ägypten gezielt eingesetzt. Doch diese lassen sich nicht mehr einschüchtern. Von JULIANE SCHUMACHER
Es sind keine schönen Bilder, die zum zweiten Jahrestag der ägyptischen Revolution übers Netz und die Fernsehbildschirme gehen: blutige Straßenkämpfe zwischen Polizei und Demonstrant_innen in Kairo und anderen ägyptischen Städten, brennende Polizeistationen, Angriffe auf die Parteibüros der Muslimbrüder, denen Präsident Mursi angehört. Und wieder: brutale Angriffe auf demonstrierende Frauen. Diesmal nicht vonseiten der Sicherheitskräfte, wie im Dezember 2011, als Soldaten eine Demonstrantin halbnackt über den Tahrir-Platz schleiften und auf sie eintraten. Sondern von Männern, die Frauen bei den großen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Gruppen vergewaltigten. Videos, von Kameras auf nahen Hausdächern aufgenommen, zeigen, wie Gruppen von zwanzig oder mehr Männern die Frauen abdrängen, dann ist lange Zeit nichts mehr von ihnen zu sehen. Wer in der umstehenden Menge zu den Angreifern gehört, wer versucht, den Frauen zu helfen, ist in der Masse kaum auszumachen. Es dauert je nach Fall einige Minuten bis zu über einer Stunde, ehe es anderen Demonstrant_innen gelingt, die Frauen zu befreien. Mehr als zwanzig dieser Massenvergewaltigungen gab es allein am 25. Januar 2013, als die Bewegung mit großen Demonstrationen den Beginn der Revolution vor zwei Jahren feiern wollte. Das bilanziert die Eingrifftruppe gegen sexuelle Belästigung, die Aktivist_innen bereits im letzten Jahr gegründet haben. Die Frauen geben in fast allen Fällen zu Protokoll, dass die Angreifer bewaffnet gewesen und gezielt vorgegangen seien. Sämtliche der betroffenen Frauen werteten die Vorfälle Medien gegenüber als gezielte politische Einschüchterungsversuche, sie gingen davon aus, dass es sich bei den Angreifern um bezahlte Schläger handelt, die in Ägypten häufig von Parteien oder zur Unterstützung der Polizei eingesetzt werden. Teils beschuldigten sie in Interviews vor laufender Kamera die Muslimbruderschaft, die Angriffe angeordnet zu haben, eine Frau erstattete Anzeige gegen das Innenministerium.
Gezielter Gewalteinsatz. Der Einsatz von sexualisierter Gewalt gegen Protestierende in Ägypten hat eine lange Geschichte und steht in engem Zusammenhang mit einem hohen Niveau an alltäglichen Belästigungen. Aktivist_innen berichten von gezielter sexueller Gewalt bei Demonstrationen seit 2005, Vergewaltigungen gehörten fest zum Folter-Repertoire der Staatssicherheit, die unter Mubarak gegen Regimegegner_innen und -kritiker_innen vorging. Daran änderte sich nichts, als Mubarak im Februar 2011 gestürzt wurde. Das Militär übernahm für eineinhalb Jahre die Macht. Als es bei seiner ersten groß angelegten Aktion gegen Protestierende am 9. März 2011 über zweihundert junge Protestierende festnahm und folterte, berichteten die verhafteten Frauen danach, sie seien nicht nur von den Soldaten nackt ausgezogen, sondern auch zu sogenannten „Jungfräulichkeitstests“ gezwungen worden. Weil die Frauen bei Pressekonferenzen und auf Videos im Internet detailliert Bericht erstatteten und Amnesty International den Fall anschließend auch außerhalb von Ägypten publik machte, brachte der Vorfall die herrschenden Generäle, wenn auch mit ein paar Monaten Verspätung, genug in Bedrängnis, dass sie öffentlich Stellung dazu nehmen und die erzwungenen „Tests“ schließlich zugeben mussten. Als es im November und Dezember 2011 erneut zu heftigen Protesten gegen das derzeit herrschende Militär kam, ging dieses, wie Aktivist_innen bestätigten, sehr gezielt gegen Frauen vor: Nicht nur Demonstrantinnen, wie das Mädchen im blauen BH, dessen Bild weltweit auf den Titelseiten prangte, waren Opfer von Gewalt, sondern auch ausländische Journalistinnen. Eine französische und eine amerikanische Journalistin wurden in jenen Tagen am Rande des Tahrir-Platz angegriffen und massiven sexuellen Übergriffen ausgesetzt – an denen, wie sie berichteten, auch Polizisten beteiligt waren.
„Unmoralische Demonstrantinnen“. Die gezielten Angriffe gegen Frauen führten in den folgenden Wochen zu mehreren großen „Frauen-Demonstrationen“. Dass diese von Männern „geschützt“ wurden, war einerseits verständlich, wurde von manchen Aktivistinnen aber auch kritisiert. Denn es reproduziere ja genau die herrschenden Rollenmuster, die auch die Angreifer propagierten: Eine Frau braucht einen Beschützer – geht sie allein auf die Straße, erst recht auf eine Demonstration, so läuft sie immer Gefahr, Opfer von sexuellen Übergriffen zu werden. Daraus folgerte der reaktionäre Teil der Gesellschaft, dass es für Frauen schlichtweg nicht angebracht sei, allein hinauszugehen, dass „solche“ Frauen sich also unmoralisch verhielten. Dass während der Revolution auf dem Tahrir-Platz Männer und Frauen gemeinsam auf dem Platz übernachteten und auch bei den folgenden Protesten Frauen stets gleichberechtigt beteiligt waren, wurde von den Herrschenden immer wieder gegen die Protestierenden ins Feld geführt: In den staatlichen Medien wurden Protestierende wiederholt als Prostituierte dargestellt und so versucht, die Protestbewegung zu verunglimpfen und insbesondere weibliche Protestierende von der Teilnahme an den Demonstrationen abzuhalten. Zu dieser Strategie passt auch, dass sexuelle Gewalt gegen weibliche Protestierende in den ägyptischen Medien ein großes Thema war – auf teils sehr problematische Weise, da häufig den Frauen selbst die Schuld gegeben wurde –, sexuelle Gewalt gegen Männer, die es von den Sicherheitskräften ebenfalls gab, jedoch durchwegs totgeschwiegen wurde. Denn während etwa die „Jungfräulichkeitstests“ in Ägypten und im Ausland über Monate Thema in den Nachrichten und Diskussionen waren, gab es keinerlei Aufschrei darüber, dass im Rahmen der Festnahmen am 9. März viele der verhafteten Männer mehrfach vergewaltigt wurden. An ihnen selbst hat es nicht gelegen – mehrere Betroffene haben ihre Erfahrungen sehr detailliert im Internet publik gemacht –, eher daran, dass sich dies nicht so leicht für die Reproduktion verbreiteter Vorurteile nutzen ließ. Weder in Ägypten für die Empörung über die „unmoralischen Demonstrantinnen“ noch international für den mitleidigen Blick auf die „unterdrückten Muslima“.
Kampf um Geschlechterrollen. Vor diesem Hintergrund scheint auch die Vermutung der Demonstrantinnen plausibel, die jüngsten Angriffe seien politisch gewollt. Die Demonstrationen der letzten Monate richten sich gegen die Herrschaft der Muslimbruderschaft, gegen die Machtfülle des neuen Präsidenten Mursi und gegen die Bestrebungen, strengere islamische Normen im Alltag durchzusetzen – die Muslimbrüder haben also durchaus ein Interesse, die Demonstrantinnen einzuschüchtern, zu diskreditieren und ihre konservative Wählerschaft hinter sich zu bringen. Denn mit der Revolution hat auch ein heftiger Kampf um veränderte Geschlechtermuster eingesetzt. Vor allem junge Frauen, die an der Revolution beteiligt waren, haben viel Selbstvertrauen aus diesen Erfahrungen in den Alltag mitgenommen, und auch bei vielen jungen Männern steht das bisherige starre Männerbild in der Diskussion. Das allgemein politisierte Klima hat dazu geführt, dass die Frauen nicht mehr den Mund halten, wenn sie Ungerechtigkeit ausgesetzt sind – sondern sich organisieren. Schon kurz nach der Revolution wurde sexuelle Belästigung bei Demonstrationen und im Alltag ein Thema, im Frühjahr 2011 gründeten Frauen mehrere Webseiten und Foren, auf denen sie über ihre Erfahrungen berichteten, sinnvolle Reaktionen da-rauf diskutierten und teils auch Fotos von Belästigern veröffentlichten, etwa die „Harassmap“, auf denen die Orte von Belästigung verzeichnet wurden. Unter dem Hashtag #EndSH (End Sexual Harassment) twittern Aktivistinnen seither über Belästigungen und Übergriffe. Das Thema sexuelle Belästigung im Alltag wurde damit in die Öffentlichkeit gespült und ist seitdem Gegenstand heftiger Debatten. Gleich-zeitig gründeten sich aus den Reihen der Protestierenden selbstorganisierte Gruppen wie „Tahrir Bodyguards“ oder die „Op Anti-Sexual-Harassment“, um Protestierende zu schützen. Die Op Anti-Sexual-Harassment hat nicht nur eine Hotline, bei der man Übergriffe melden kann, sie umfasst auch (teils bewaffnete) Gruppen, die versuchen, Frauen im Fall von Vergewaltigungen zu befreien. Sie leistet erste Hilfe und stellt Räume zur Verfügung, wo Frauen nach einem Übergriff in Sicherheit sind. Die Brutalität der Angriffe gegen die Protestierenden spiegelt die Missachtung, die Teile der Gesellschaft Frauen entgegenbringen, und es ist zu vermuten, dass die Angriffe auch deshalb so verbreitet sind, weil sich neben den Angreifern immer noch zahlreiche Mitläufer finden, die mitmischen. Aber sie zeigen auch, wie sehr die konservativen Teile der Gesellschaft die Erschütterung der herrschenden (Geschlechter-)Ordnung fürchten – und wie viel Selbstbewusstsein die Frauen besitzen, die sich dagegen zur Wehr setzen. Die Opferrolle, die ihnen auch westliche Medien gern andichten, verweigern die Aktivistinnen jedenfalls sehr konsequent. „Ich kann diesen Begriff ‚Überlebende‘ nicht ausstehen“, schreibt eine Bloggerin, „solch ein Übergriff ist eine furchtbare Sache, aber er definiert nicht, wer eine Frau ist.“ Und die beiden jungen Frauen Yasmine El Barmawy und Hania Muhib, die am 25. Januar Opfer einer Massenvergewaltigung auf dem Tahrir-Platz wurden, und davon in einer Fernsehshow berichteten, sagen: „Wir geben nicht auf. Das ist unser Platz. Das ist unser Land.“
Juliane Schumacher ist Autorin von „Tahrir und kein Zurück. Ägypten, die Bewegung und der Kampf um die Revolution“ (gemeinsam mit Gaby Osman, erschienen im Unrast Verlag)