In der Türkei wurden nach dem Putschversuch zahllose NGOs verboten. VALERIE PURTH hat die Feministin GÖKSUN YAZICI gefragt, wie Solidarität in Zeiten von Repression und Zensur aussehen kann.
an.schläge: Anfang Oktober wurden per Dekret 375 türkische NGOs geschlossen. Wie hat sich das auf deine Arbeit ausgewirkt?
Göksun Yazıcı: Die meisten dieser NGOs, die zunächst suspendiert und dann geschlossen wurden, hatten nichts mit dem Putschversuch oder der Gülen-Bewegung zu tun, sondern beschäftigten sich mit Kinder-, Frauen- oder allgemeinen Menschenrechten. Ich war Mitglied der „Agenda of the Child Association” (Gündem Çocuk Derneği), die sich mit der Verletzung von Kinderrechten – etwa mit Ermordungen von Kindern durch die Polizei oder mit Zwangsverheiratungen – beschäftigt. Sie war unter den 375 NGOs. Straßenproteste sind nur eine Form von Aktivismus: Das Verfassen von Berichten und das Abhalten von Konferenzen zu Themen wie Menschenrechten oder Staatsterror sind ebenso wichtig. Durch das Schließen von NGOs wurden aber auch diese Formen verunmöglicht.
Dass Straßenproteste dennoch – zumindest meinem Eindruck einer Außenstehenden nach – erfolgreich sein können, zeigt das Beispiel rund um den Vorschlag der AKP-Regierung für eine Strafrechtsänderung im November 2016: Sexuelle Übergriffe auf Minderjährige sollten straffrei bleiben, wenn der Täter das Opfer im Anschluss heiratet. Proteste von Feminist*innen waren die Folge, woraufhin der Gesetzesvorschlag „zur Bearbeitung“ zurückgezogen wurde.
Es ist eine Schande, dass eine solche Debatte überhaupt losgetreten werden konnte. Zu einer Vergewaltigung kann es niemals einen „Konsens“ geben, und Zwangsverheiratungen auf diese Weise legitimieren zu wollen, ist skandalös. Ja, Frauen* und LGBTI sind trotz des Verbots von Straßenprotesten hinausgegangen. Das war mutig. Die Polizei konnte ihnen nichts anhaben. Für mich ist dies ein Beispiel, das Hoffnung macht: Manche Grenzen können selbst in den dunkelsten Zeiten nicht überschritten werden. In diesem Fall waren es feministische Grenzen.
Inwiefern haben sich in den letzten Monaten in der Türkei die Möglichkeiten für Aktivismus, und insbesondere feministischen Aktivismus, geändert?
Staatliche Unterdrückung ist in meinen Augen immer ein Ausdruck männlicher Herrschaft. Nach dem Putschversuch wurde der Ausnahmezustand ausgerufen: Er hat und hatte massive Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Freier politischer Raum wird beschränkt und die Maxime „Ein Staat – eine Nation – ein Geschlecht” erzwungen. Wenn der öffentliche Raum beschnitten wird, ist das fatal, da die Freiheit von Frauen* und LGBTI vom freien öffentlichen Raum abhängt. Feminismus wurde, genau wie andere Freiheitsbewegungen, zur Zielscheibe des Staats nach dem Putschversuch.
Gibt es Allianzen oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Akteur*innen in der Zivilgesellschaft?
Das Wort „Unite!“ klingt wie ein Befehl, ich bevorzuge das Verb „common-ing“. „Common-ing “ macht einen Raum auf für die Besonderheiten der einzelnen Bewegungen, während es sie gleichzeitig in einen breiteren gemeinsamen Kontext setzt. Hannah Arendt verwendete die Metapher eines Tischs für den öffentlichen Raum: Ein Tisch trennt und verbindet zugleich. Diese Metapher gilt auch für soziale Bewegungen. Ein solcher Prozess wurde während der Gezi-Proteste gelebt, als alle Bewegungen rund um den „Gezi-Tisch” saßen, verbunden durch den geteilten Raum, und getrennt durch ihre unterschiedlichen Schwerpunkte. Es war ein Prozess des Voneinander-Lernens und des gemeinsamen Schaffens von „common“.
Du arbeitest mit Geflüchteten im Südosten der Türkei, aktuell für eine NGO im Gesundheitsbereich. Wie ist es, dort zu arbeiten?
Der Südosten der Türkei ist großteils konservativ und obrigkeitshörig – ausgenommen die kurdischen Gebiete. Dort zu leben und zu arbeiten ermöglicht es mir, konservative Lebensrealitäten aus der Nähe zu beobachten. Ich habe festgestellt, dass „konservativ“ in diesem Zusammenhang hauptsächlich eine fast absolute männliche Vorherrschaft bedeutet. Humanitäre Arbeit – so wie eben die Arbeit von NGOs im Gesundheitsbereich – wird oft als „apolitisch” abgetan, was ich sehr kritisch sehe. Zumal es mir diese Arbeit erlaubt, sowohl mit Geflüchteten aus Syrien als auch mit anderen Aktivist*innen vor Ort in Kontakt zu treten.
In Österreich – und ich denke in ganz Europa – wird die Situation von Geflüchteten in der Türkei vor allem in Zusammenhang mit dem sogenannten „Flüchtlingsdeal“ zwischen der EU und der Türkei diskutiert. Wie ist die Situation vor Ort?
Dieser Deal hat das Konzept eines „temporären Asyls” für Geflüchtete aus Syrien in der Türkei gestärkt. Es erkennt die Grundrechte von Geflüchteten nicht an, inklusive ihrer politischen Rechte wie der Meinungsfreiheit, sondern gesteht ihnen nur einige wenige Hilfsleistungen zu: z. B. kleine finanzielle Unterstützungen und einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem. Der Zugang zu Bildung bleibt aber trotzdem ein großes Problem: 500.000 der insgesamt 830.000 syrischen Kinder können nicht zur Schule gehen. Natürlich ist die wirtschaftliche Situation, ist die medizinische Versorgung wichtig; als bloß „temporär geschützte“ Personen können Syrer*innen sich jedoch nicht frei artikulieren. Es wird erwartet, dass sie dankbar und ergeben sind; sie werden nicht als politische Subjekte wahrgenommen.
Was kannst du über die spezielle Situation von weiblichen* Geflüchteten sagen?
Sowohl das syrische als auch das türkische Lebensumfeld sind stark patriarchal geprägt. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein großes Problem. Auch türkische Frauen* bekommen nicht genug Schutz durch den türkischen Staat: Beratungsstellen und Schutzmechanismen wie Frauenhäuser reichen einfach nicht aus. Ein Großteil der Täter bleibt ungestraft, stattdessen wird die Schuld den Frauen* zugeschoben. Wenn die Lage also schon für türkische Frauen* schlecht ist – wie können dann syrische Frauen* geschützt werden?
Was braucht es, um die Situation von geflüchteten Frauen* zu verbessern?
Aufklärung über die eigenen Rechte und damit zusammenhängendes Empowerment halte ich für sehr wichtig. In Syrien etwa ist Polygamie für Männer weitgehend legal – zumindest auf dem Papier, – manche syrische Frauen* und Mädchen lassen sich auf eine Ehe und die Rolle als Zweitfrau eines türkischen Mannes ein, weil sie sich dadurch besseren Schutz versprechen. In der Türkei ist Polygamie jedoch verboten, und eine zweite Ehefrau verfügt über keinerlei Rechte. Dies betrifft auch Zwangsverheiratungen; viele syrische Mädchen werden schon sehr früh verheiratet, teilweise sind sie jünger als 14 Jahre. Auch den Zugang zu Bildung halte ich in diesem Zusammenhang für wesentlich.
Woher nimmst du deine Motivation?
Solidarität! Frauen* sind stark. Ich habe in Urfa mit einer Frau aus Kobanê zusammengearbeitet, die vor dem IS geflüchtet ist. Ihre Augen waren die traurigsten Augen, die ich je gesehen habe. Das NGO-Umfeld bot Frauen* wie ihr einen geschützten Raum. Langsam erholte sie sich von ihren Erlebnissen und ihre Augen fingen wieder an zu leuchten – dank des feministisch-solidarischen Umfelds und der Freundinnenschaften, die sie schließen konnte. Ich nehme meine Motivation aus dem Wissen, dass Menschen nie lediglich „Opfer“ sind, sondern starke Personen mit der Fähigkeit, ihre Situation zu überwinden und ihr Leben selbst und in Würde zu gestalten.
Welche Themen beschäftigen dich als Aktivistin?
Verschiedene, vor allem aber Feminismus, Migration, LGBTI-Themen, die Einforderung und Rückaneignung von öffentlichem Raum, und prekäre Lebensverhältnisse. Für mich hängen diese Bereiche alle zusammen, da der Kampf um Freiheit sie in einen gemeinsamen Kontext setzt. Wie können wir sexistische Ausbeutung verstehen, wenn wir uns nicht männlicher Herrschaft und Heteronormativität bewusst sind? Wie kann über freien politischen Raum gesprochen werden, wenn wir uns nicht bewusst sind, was Gentrifizierung bedeutet? Es gibt nicht nur ein unterdrückerisches System; diese Machtachsen sind alle miteinander verflochten.
Göksun Yazıcı ist Aktivistin, Autorin und Forscherin. Sie arbeitet für verschiedene Initiativen mit Geflüchteten im Südosten der Türkei, aktuell für eine NGO im Gesundheitsbereich. Sie schreibt für diverse Zeitschriften, u. a. für „Express“.
Valerie Purth ist Juristin und Orientalistin in Wien. Herbst und Winter 2016 hat sie für eine Forschungsarbeit im Bereich Frauenrechte und Gewaltschutz in Istanbul verbracht.
Übersetzung aus dem Englischen: Valerie Purth