Sexuell übertragbare Erkrankungen erleben ein ungewolltes Comeback in Europa. Für die Prävention von Syphilis und Co braucht es neue Strategien. Von Verena Kettner
Anna* fühlt sich wie ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, als ihre Hautärztin ihr den Grund für die roten, juckenden Punkte auf ihrem Körper nennt: Skabies, umgangssprachlich auch Krätze genannt, ein Parasitenbefall der Haut durch Milben. Sie wird durch intensiven Hautkontakt übertragen und ist in Europa momentan wieder stark auf dem Vormarsch. Was für Anna, ihr Polykül1 und ihre WG folgt, sind wochenlanges exzessives Wäschewaschen und Putzen sowie das Eincremen mit antiparasitischer Salbe, um die Weiterverbreitung zu stoppen. Anna versucht auch zu rekonstruieren, mit wem sie in den letzten Wochen intensiven Hautkontakt hatte. Sie fühlt sich ein bisschen wie während der Corona-Lockdowns, nur dass die Nachverfolgung der Kontakte hier privat erfolgt. Es ist anstrengend, sie fühlt sich schuldig und schämt sich. Ihr ist klar: Ein besseres System muss her, um so etwas in Zukunft besser zu handhaben.
Krätze ist nicht die einzige Krankheit, deren Auftreten momentan stark ansteigt, vor allem STIs (Sexually Transmitted Infections) rücken wieder in den Fokus. Alarmierende 17 Millionen Fälle sexuell übertragbarer Erkrankungen bilden den historischen Höchststand in Europa, warnt eine im Herbst 2023 publizierte Studie der WHO. Die Zahl der Syphilis-Erkrankungen stieg zwischen 2010 und 2019 um satte 87 Prozent, im selben Zeitraum wurden auch doppelt so viele HIV-Diagnosen neu gestellt wie in den Jahrzehnten zuvor. Österreich fällt außerdem durch Höchstwerte bei Gonorrhö- und Chlamydien-Infektionen negativ auf. Besonders bitter: Die UN hatte mit der „Agenda 2030“ das Ziel formuliert, alle sexuell übertragbare Erkrankungen bis 2030 so weit zurückzudrängen, dass sie keine Bedrohung mehr für die Weltgesundheit darstellen. Insbesondere mit Blick auf Österreich ist die Entwicklung allerdings nicht überraschend – und sie ist auch nicht auf Dating-Apps zurückzuführen, die es Menschen ermöglichen, schnell und unverbindlich Sex zu haben, wie es österreichische Tageszeitungen suggerieren.
Zu wenig Aufklärung. Die Hauptursache für den starken Anstieg sei ein zunehmendes Hochrisikoverhalten bei sexuellen Kontakten, vor allem mit wechselnden Sexualpartner*innen, heißt es in einer Artikelreihe basierend auf den Ergebnissen der WHO-Studie. Die erhöhte Risikobereitschaft ließe sich vor allem dadurch erklären, dass viele STIs mittlerweile sehr gut behandelbar sind und deswegen ihren Schrecken verloren hätten. Bei unkomplizierten und früh entdeckten Erkrankungen lassen sich sowohl Syphilis als auch Gonorrhö und Chlamydien gut mit Antibiotika behandeln. Um eine Ansteckung mit HIV zu vermeiden, können HIV-negative Menschen ein Medikament zur sogenannten Präexpositions-Prophylaxe (PrEP) in Tablettenform einnehmen, außerdem ist auch eine Infektion mit HIV in Österreich gezielt und gut therapierbar.
Aus medizinischer Perspektive mag das eine plausible Analyse sein, sie geht aber implizit davon aus, dass die Verantwortung für ausreichende Information und Prävention beim Individuum liegt. Fehlende Aufklärung über sexuell übertragbare Erkrankungen spielt dabei aber eine entscheidende Rolle. Wenn beispielsweise auf Ratgeber-Websites zu sexueller Gesundheit oder auch in Artikeln über HIV informiert wird, richten sich die Tipps meist hauptsächlich an schwule Männer bzw. wird über das Ansteckungsrisiko bei schwulem Sex geschrieben. Aber nicht nur schwule Männer haben gerne Analsex. Und nicht nur beim Analsex können Menschen sich mit HIV infizieren. Während es in den 1990er- und 2000er-Jahren zumindest staatliche Aufklärungskampagnen für die Risiken von HIV gab, wird mittlerweile im öffentlichen Gesundheitsdiskurs kaum mehr über die Erkrankung gesprochen. Das homofeindliche Stigma hingegen gibt es immer noch. Auch über andere sexuell übertragbare Erkrankungen gibt es sowohl zu wenig niederschwellig zugängliche Informationen als auch zu wenig aktuelle Forschung. In Österreichs Schulen beispielsweise ist Sexualpädagogik nicht im Lehrplan verankert, sie bleibt dem guten Willen der Lehrkräfte überlassen. Das Problem fehlender Information wäre hier sehr einfach zu lösen: Insbesondere für Schulklassen gibt es gute Angebote von externen Bildungseinrichtungen. Prävention ist teuer. Was bei der Rede vom „individuellen Hochrisikoverhalten“ außerdem gerne ausgeblendet wird:
Prävention ist teuer. Regelmäßige umfassende STI-Screenings werden in Österreich nicht von den Krankenkassen bezahlt. Ärztliche Überweisungen für kostenlose Tests gibt es nur bei konkreten Symptomen und Verdachtsfällen, was für das Verhindern einer Weiteransteckung oft zu spät ist. Eine empfehlenswerte und kostengünstige Adresse für Testungen auf die häufigsten STIs sowie kompetente Beratungen sind in einigen österreichischen Bundesländern die AIDS-Hilfen. Auch hier ist allerdings nicht möglich, sich beispielsweise auf verschiedene bakterielle oder Pilz-Infektionen testen zu lassen. Diese sind zwar weniger gefährlich, aber sehr unangenehm und ebenfalls ansteckend. Auch die Impfung gegen HPV ist für Personen über 21 Jahre nicht gratis. Dabei zählt HPV zu den häufigsten sexuell übertragbaren Erkrankungen, die meisten Menschen infizieren sich zumindest einmal im Leben. Auch die besten Präventionsmaßnahmen für direkten Sexualkontakt, Kondome und Lecktücher, sind teuer. Lecktücher können außerdem nicht in herkömmlichen Drogerien erworben werden, sondern müssen in Apotheken gekauft oder online bestellt werden. Kostenlose, regelmäßige STI-Screenings sowie gratis Dental Dams und Kondome wären eine erfolgversprechende Strategie, um die Zahl der Ansteckungen zu senken.
Wechselnde Partner*innen. Auch mehr wechselnde Sexualpartner*innen müssten dann nicht zum Problem werden. Zwar steigt selbstverständlich statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit jedem neuen sexuellen Kontakt. Aber sexuelle Kontakte sind eben nicht nur Statistiken, es sind Menschen, die achtsam miteinander umgehen können. Insbesondere bei konsensueller Nicht-Monogamie, also wenn Menschen mehrere romantische und sexuelle Beziehungen führen und alle Beteiligten darüber Bescheid wissen, bewährt sich die Praxis des regelmäßigen Testens.
Nach dem Krätze-Schock setzt sich auch Anna mit den Lieben in ihrem Polykül zusammen. Sie vereinbaren, dass jede Person sich alle sechs Monate bei der AIDS-Hilfe testen lässt. Falls Symptome auftreten oder es ungeschützten Sexualkontakt mit Personen außerhalb des Polyküls gibt, soll ein Test baldmöglichst erfolgen. Die Ergebnisse wollen sie dann jeweils auf einem Pirate Pad teilen, zu dem alle Zugriff haben. So ist es möglich, eine potenzielle Ansteckung zeitnah nachzuverfolgen und entsprechend zu handeln, vor allem, da nicht alle Personen im Polykül gleich viel Kontakt miteinander haben und im Alltag nicht unbedingt über ihr Sexualverhalten sprechen. Am Ende des Abends fühlt Anna sich erleichtert. Beim nächsten Verdachtsfall würde zumindest nicht mehr die gesamte Verantwortung auf ihr alleine lasten.
Verena Kettner findet geteilte Verantwortung mindestens genauso schön wie geteilte Lust.