Moralisch gerade noch vertretbar oder doch der lang ersehnte Befreiungsschlag? Wenn alte Frauen vögeln, klingeln die Kinokassen und jubeln die Verlage. Von ELISABETH GOLLACKNER
„Na, i bin ned rasiert, mir fallen’s eh schon aus“, antwortet die eine Freundin der anderen auf die Frage nach der Intimrasur. Zwei Frauen über Fünfzig, korpulent, faltig, auf ihren Liegestühlen am Strand in Kenia, warten auf einen jungen Loverboy. Es sind die Hauptcharaktere in Ulrich Seidls jüngstem Film „Paradies: Liebe“, der im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes präsentiert wurde. Die beiden Sextouristinnen sind die kolonialistisch-kapitalistische Version von Figuren, wie sie in letzter Zeit in Film und Literatur vermehrt auftauchen: Frauen, die jenseits von körperlicher Makellosigkeit und Jugend ihre Sexualität ausleben.
„Sex im Alter ist eines der wenigen Tabus, die es in unserer Gesellschaft noch gibt“, sagt die Philosophin und Ethikerin Katharina Lacina. Ihn darzustellen sei „ein Tabubruch, der aber ethisch so weit in Ordnung ist, dass man ihn noch beschreiben kann“. Und gerade dieser Tabubruch sei für Filmemacher_innen und Autor_innen interessant. „Das Alter verdrängt man, ähnlich wie den Tod. Daran möchte man nicht denken.“
Auch der Regisseur Andreas Dresen bestätigt diese Vermutung: „Es hat mich angeödet, dass die Gesellschaft immer älter wird, es aber nicht die dazugehörigen Bilder gibt“, meinte er zum Start seines Films „Wolke 9“. „Liebe und Sex hören ab einem bestimmten Alter scheinbar auf zu existieren.“ Im Film verliebt sich die Hauptfigur nach dreißig Jahren Ehe plötzlich in einen anderen Mann, wird von der Liebe und dem Begehren überrollt. Ganz ungeschoren lässt der Filmemacher und Drehbuchautor seine entfesselte weibliche Hauptfigur aber nicht davonkommen. Am Ende, als ihre Affäre öffentlich wird und sie sich vom Ehemann trennt, bringt der sich um. Eine klare Botschaft ans weibliche Publikum, könnte man unterstellen. Trotzdem (oder gerade deshalb?) wurde „Wolke 9“ mit begeisterten Kritiken bedacht, Andreas Dresen für seinen Mut gelobt, „Sex ungeschönt zu zeigen“.1
Abwehr und Abwertung. Als noch mutiger erweist sich Elfriede Vavrik. „Nacktbadestrand“ nennen sich die autobiografischen Aufzeichnungen, in denen eine 79-jährige Frau über ihre neu entdeckte Sexualität schreibt (vgl. an.schläge 05/2010). Es waren Schlafstörungen, berichtet sie, und statt Pulverl verschrieb ihr der Arzt Sex. Nur: Mit wem, nach vierzig Jahren Witwendasein? Auf ihr Inserat „Suche potenten Partner, aber ohne Bindung“ meldeten sich mehr als hundert Interessenten, das daraus entstandene Buch wurde mehr als 270.000 Mal (!) verkauft.2 Das Cover ähnelt stark dem von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“, man wollte ganz offensichtlich auf der gleichen Welle schockierender Offenheit mitschwimmen. Doch der Ekel, mit dem die junge, schöne Roche spielt, wird in Vavriks Fall um eine unheimliche Komponente erweitert. Dieses Mal ist es eine faltige Alte, die sich Gartengerätschaft in die eigenen Körperschächte schiebt.
Vavriks Mut wird nicht nur gelobt. Feuilletonist_innen reagieren entsetzt, eine Schamgrenze wurde überschritten, der Reflex darauf ist Abwehr und Abwertung. „Österreichs greises Luder“ 3 titelt beispielsweise Felicitas von Lovenberg in der „FAZ“, angewidert von der „Gerontophilie“, dem Gegenstück zur Pädophilie, und schießt gleich nach: „Man malt sich lieber nicht aus, was nach der Logik des Bestsellermarkts demnächst auf dieses Schauermärchen von der lüsternen Großmutter folgen könnte.“
Asexuelle Alte. „Generationenschranke“ wird die Blockade genannt, die den Menschen im Normalfall dazu bringt, sich seine Sexualpartner_innen innerhalb der eigenen Altersklasse zu suchen – und alles jenseits dieser Grenzen mit Kopfschütteln oder Ekel abzutun. „Niemand, wirklich niemand will sich seine Eltern beim Sex vorstellen“, sagt die Psychotherapeutin Brigitte Moshammer-Peter, und sie fügt hinzu: „Aus eigener Erfahrung kann ich inzwischen sagen, dass man sich auch die eigenen Kinder nicht vorstellen will.“ Bei Großeltern wird das ganze noch eigenartiger. Hinzu kommen Stereotype, die die Gesellschaft verschiedenen Lebensphasen zuordnet. „Es gibt dieses Bild von der braven Omi, die Kekse backt“, so Moshammer-Peter. Ein Bild, das Begehren und aktive Sexualität ausschließt. „Ab Fünfzig haben wir wirklich asexuell zu sein. Wir entsprechen nicht mehr dem Schönheitsideal. Deshalb dürfen wir auch nicht mehr als Sexualobjekt gelten.“ Dass dieses Tabu gerade aufgebrochen wird, findet sie sehr gut: „Wenn etwas öffentlich wird, kommt Bewegung rein.“
Dass sich jüngere Frauen ekeln, anstatt Solidarität zu zeigen und sich über mögliche Perspektiven zu freuen, habe aber auch mit Selbstabwertung zu tun, meint die Paar- und Sexualtherapeutin Renate Falkner. „Die Frage ist ja: Wann beginnt das Alter? Bei manchen beginnt es bereits mit 25.“ Attraktiv sei nur, was perfekt sei, kritisiert sie. Gerade junge Frauen seien in dieser Hinsicht streng zu sich selbst und hart in der Beurteilung ihrer Umwelt. Die Sinnlichkeit bliebe dabei auf der Strecke. Cellulite-Dellen suchen; eine Diät nach der andern machen; erst wieder ausgehen, wenn die Waage drei Kilo weniger anzeigt … „Es geht nicht um Optik, sondern um Genussfähigkeit“, betont Falkner. „Und sie ist die Basis für erfüllte Sexualität in späteren Jahren.“
Schießende Omas. „Ein neuer Mensch. Neue Arme und Beine, Brüste, Bäuche lernten sich kennen und mögen“, schreibt die Feministin und Filmemacherin Helke Sander in ihrer Kurzgeschichtensammlung „Der letzte Geschlechtsverkehr“. Im Gegensatz zum offensiven „Nacktbadestrand“ von Elfriede Vavrik beschreibt Sander das vorsichtige und teilweise ängstliche Herantasten an eine neue Lebensphase. Die Heldinnen ihrer Geschichten möchten es gern noch mal versuchen, auch hier werden Inserate bemüht und sogar der Arzt als möglicher Sexualpartner in Betracht gezogen.
„Das Alter an sich ist ein Problem“, sagt Katharina Lacina. „Es ist ein Verlustprozess, bei dem man Fähigkeiten verliert und abbaut.“ Die medial forcierte Darstellung der „aktiven Alten“ ermöglicht es, die Angst vor diesem Verlustprozess aufzuschieben. „Wenn nun auch der sexuelle Aspekt betont wird, dann komplettieren wir das Bild, bei dem alle Funktionen nach wie vor ausgefüllt werden können. Dieses Bild erzeugt sicher auch Druck. Ich meine: Es gibt Viagra! Das sagt sehr viel.“ Brigitte Moshammer-Peter sieht noch einen weiteren Grund, warum „alter Sex“ immer öfter medial auftaucht: „Die 68er-Generation kommt jetzt in die Jahre, und die wollen ihre Botschaft weitertragen. Wieder einmal sagen sie: Es ist noch alles möglich! Das sind die Frauen, die die Frauenbewegung getragen haben. Die waren immer schon sehr kämpferisch aufgelegt, haben starken Gegenwind aushalten müssen.“
Kämpferisch ist die „Sex-Oma“ Vavrik allemal, nicht nur in den teils untergriffigen Interviewsituationen. Auch in ihrem Buch bedient sie sich martialischer Sprachbilder. „Ich hatte die Zähne, Messer, den Korb mit den Geschenken“, schreibt sie, angelehnt an Rotkäppchen als Analogie für die (unfreiwillige) Defloration: das Mädchen geschlechtsreif, und der Wolf – oder doch der Jäger –, der es auffrisst. Mit knapp achtzig Jahren dreht Vavrik die Fantasie um: Jetzt ist sie es, die die Kontrolle übernimmt. „Ich hatte das Gewehr, und ich war es, die schoss.“
Sind die vielen Bücher und Filme ein Beweis dafür, dass sich in den Fünfzig-plus-Betten etwas verändert hat? „Nein“, ist sich Brigitte Moshammer-Peter sicher. Den Sex gab es immer, er wurde nur nicht kommuniziert. Auch Renate Falkner bestätigt, dass überwiegend ältere Paare zu ihr zur Sexualberatung kämen. Und Moshammer-Peter ergänzt: „Nirgends gibt es so viel Sex wie in der Geriatrie. Da hat man viel Zeit, und Verhütung ist auch kein Thema mehr. Das macht Hoffnung, oder?“
Elisabeth Gollackner ist Journalistin. Sie lebt und liebt in Wien.
Fußnoten:
1 www.welt.de/kultur/article2385509/Wolke-9-und-die-Altersflecken-beim-Sex.html
2 Angabe laut telefonischer Auskunft von Bernhard Salomon, Geschäftsführer der Edition a, im Mai 2012.
3 www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/2.1719/bestseller-nacktbadestrand-oesterreichs-greises-luder-1993574.html
Ulrich Seidl „Paradies: Liebe“ (A/D/F, 2012), www.ulrichseidl.com
Andreas Dresen „Wolke 9“ (D, 2008), www.wolke9.de
Elfriede Vavrik „Nacktbadestrand“, Edition a, 2011, www.edition-a.at
Helke Sander „Der letzte Geschlechtsverkehr“, Verlag Antje Kunstmann, 2011, www.helke-sander.de