Die Wut hat ein Geschlecht: Während Zorn bei Männern mit Entschlossenheit und Stärke assoziiert wird, wurden wütende Frauen dämonisiert. Vermutlich aus Angst, dass die Wut ihre Wehrhaftigkeit befeuern könnte. Von Lea Susemichel
Die Wut ist ein roter Panda, zumindest in Pixars neuem Animationsfilm „Turning Red“. Als Symbol für Pubertät und Periode steht der Pandabär, in den sich die 13-jährige Mei Lee immer wieder verwandelt, zudem für alle großen Gefühle, die das Mädchen plötzlich überkommen und die sich schwer kontrollieren lassen.
Im Reigen der Basisemotionen, zu denen auch Ekel, Angst, Trauer, Scham, Schuld und Freude gehören, wird vor allem die rasende Wut mit Kontrollverlust assoziiert, dem Eindruck, zu einem „wilden Tier“ zu werden (das selten so flauschig ist wie der Bär aus „Turning Red“). Dass Zorn im Unterschied zu anderen, durchaus auch als überwältigend erlebten Gefühlen schnell zur Zerstörungswut werden und mit Gewalt und Grenzverletzung einhergehen kann, macht ihn vielleicht zur beunruhigendsten und bedrohlichsten aller Emotionen – vor allem für andere. Aufgrund dieser sozialen Unverträglichkeit ist Wut wohl auch das sozial verpönteste und am stärksten sanktionierte Gefühl. Doch obwohl es in erster Linie Männer sind, deren Wutausbrüche wir fürchten müssen – ob als Gewalttäter zu Hause oder als kriegstreibende „Strong Men“ in der Weltpolitik –, ist es stattdessen die weibliche Wut, die unter Verschluss gehalten wird. Die wütende Frau wurde im Laufe der Geschichte als hysterisch pathologisiert, sie wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt und als abschreckender Archetyp der Megäre und Furie geächtet.
Selbst als hypersexualisierte, schaurig-schöne Rachegöttin, verkörpert in den Figuren oft voyeuristischer Rape-Revenge-Movies oder der Kaninchen mordenden Glenn Close in „Eine verhängnisvolle Affäre“, dient sie nur als abschreckendes Beispiel für Frauen, von denen man besser die Finger lässt.
Gerechter Zorn. Mit weitreichenden Folgen: So gelten aggressive Männer bis heute eher als durchsetzungsfähig und stark, wütende Frauen hingegen als hysterisch, irrational oder prämenstruell. Völlig unbeeindruckt von dem Umstand, dass unbestritten sie es sind, die allen Grund haben, wütend zu sein, wird der gerechte Zorn weiterhin nur Männern zugebilligt. Männliche Wut, sofern sie sich nicht als gewaltvolle Raserei oder als Ausbruch des „Wutbürgers“ äußert, wird nobilitiert. Sie wird als angemessen beurteilt, wenn nicht gar moralisch idealisiert, zumindest aber als zielführend wahrgenommen. Bei Frauen gilt es stattdessen als Charakterfehler, sichtbar sauer zu sein – was übrigens auch Hillary Clinton erfuhr, die im Wahlkampf dauerlächelnd gegen das Stigma der „Angry Woman“ mit dem „Resting Bitch Face“ ankämpfen musste.
„Eine wütende Frau verliert an Status, ganz gleich in welcher Position sie ist”, so fasst die Psychologin Victoria L. Brescoll die Ergebnisse ihrer 2008 im Journal „Psychological Science” veröffentlichten Studie „Can an Angry Woman Get Ahead?“ zusammen. Männern hingegen würde nach Wutausbrüchen sogar mehr Status und Kompetenz zugesprochen, sie passen gut zu männlichem Dominanzgebaren und Durchsetzungsvermögen.
Weibliche Wut. Kein Wunder also, dass sich Frauen nach Wutausbrüchen häufiger schämen als Männer, wie auch eine Studie der University of California zeigt. Was die Autorin Leslie Jamison in ihrem gleichnamigen Essay als „I don’t get angry. I get sad” beschreibt, ist also eine geschlechtstypische Bewältigungsstrategie, bei der die eigene Wut verleugnet, zu Trauer umgedeutet, autoaggressiv nach innen gerichtet oder auf passiv-aggressive, subtil sadistische Formen der Auslebung ausgewichen wird. Trauer als passives Gefühl, das Verletzlichkeit signalisiert, ist akzeptiert. Laut Leslie Jamison ist Uma Thurmans Statement zum Fall Weinstein beispielhaft für den gesellschaftlichen Umgang mit weiblicher Wut. Denn paradoxerweise wurde Thurmans Äußerung („Ich rede erst, wenn ich nicht mehr wütend bin“) als authentische Wut-Reaktion gefeiert, obwohl sie eigentlich eine typisch weibliche Selbstbeschränkung darstellte.
Diese Selbstdisziplinierung erklärt vielleicht auch, warum es trotz der langen brutalen Geschichte patriarchaler Unterdrückung so erstaunlich wenige Radikalisierungen mit Ausrastern wie dem Attentat von Valerie Solanas gab. Ganz egal, ob sie nun – worüber gestritten wird – als Feministin auf Andy Warhol schoss oder bloß als frustrierte Künstlerin, die er zuvor miserabel entlohnt hatte.
Die Disziplinierung – der Männer es womöglich auch zu verdanken haben, dass Frauen nur Gerechtigkeit wollen und nicht Rache, wie ein feministisches Bonmot lautet – ist oft alternativlos. Schließlich arbeiten Frauen häufig in Berufen und Positionen, die es ihnen schlicht nicht erlauben, ihrem Ärger Luft zu machen, ohne den Job zu riskieren. Egal, ob als Kellnerin oder an der Kassa: Freundlich bleiben gehört zur Job-Description – und zu der einer liebevollen Mutter sowieso.
Wutmonster. Die Dämonisierung weiblicher Wut gilt in noch stärkerem Ausmaß für Schwarze Frauen und Women of Color. So dient das herabwürdigende Klischee von der „Angry Black Woman“ nicht selten dazu, antirassistischen Protest zu diskreditieren. Und Aktivist:innen wird ganz generell häufig der Vorwurf gemacht, bloß „wütende Identitätspolitik“ zu betreiben. „Tone Policing“ wird diese Strategie genannt, bei der die formulierte Kritik mit dem Hinweis auf den Tonfall vom Tisch gewischt wird.
Diese Einübung in den geschlechtsspezifischen Gefühlsausdruck beginnt früh. Das Wüten des „Wutmonsters“, mit dessen Besänftigung sich zahllose Kinderbücher befassen, wird schon bei kleinen Jungs eher toleriert als bei Mädchen („Boys will be Boys“). Auch deshalb verfügen letztere früher über eine differenzierte Gefühlspalette, während Buben oft einfach jede negative Emotion wie Schmerz oder Scham mit einer Wutreaktion abreagieren.
Das nicht tun zu dürfen und die Wut stattdessen runterschlucken zu müssen, kann handfeste gesundheitliche Konsequenzen haben. Ob hoher Blutdruck, Gastritis, Kopfschmerzen, Depressionen oder Angsterkrankungen: Es gibt viele physische und psychische Erkrankungen, die im Verdacht stehen, mit unartikulierter Wut zusammenzuhängen. Und entsprechend häufig sind Frauen von den Folgen dieses emotionalen Stresses betroffen.
Wutkraft & Wutkammer. Angesichts der vielen negativen Folgen unterdrückter Wut liegt es nahe, auf das befreiende Potenzial hemmungslosen Wütens zu setzen. Untermauert wird das von Studien wie „The Anger Advantage”, die zeigen, dass es langfristig dem persönlichen Wohlbefinden dient, wenn Wut als Alarmsignal ernstgenommen wird, das uns anzeigt, dass wir unser Leben ändern sollten. Ob bei der Urschrei-Therapie, im Wutkraft-Seminar oder in der Wutkammer, in der alles kurz und klein geschlagen werden darf: Das Ausleben angestauter Wut soll befreiend wirken. Eine These, die auch die Fülle an Ratgeberliteratur mit Titeln wie „Wut ist gut“ oder „Was deine Wut dir sagen will“ erfolgreich vermarktet. Der Grat zwischen Selbstbefreiung und Selbstoptimierung, bei der das richtige Ausmaß aggressiven Auftretens beim Bewerbungsgespräch für den nötigen Pfeffer sorgen soll, ist allerdings schmal.
Doch auch die Menge an Neuerscheinungen, die Wut als neue feministische Superpower entdeckt, ist beachtlich. Büchern wie „Speak out!: Die Kraft weiblicher Wut“ von Soraya Chemaly lässt sich jedoch nicht vorwerfen, dass es darin nur um das individuelle Fortkommen gehe. Sie verhandeln immer das politische Potenzial weiblicher Wut und zielen aufs große Ganze statt nur auf die eigene Psychohygiene. Was freilich nicht heißen soll, dass das persönliche „Anger Management“ nicht auch wichtig wäre. Doch auch Bewegungen wie #MeToo oder Ni una menos sind Kristallisationspunkte kollektiver Empörung. Allerdings hat die Bewegungsforschung Emotionen lange vernachlässigt, auch wenn deren mobilisierende Wirkung offensichtlich ist. Schließlich geht es bei Protest oft um große Gefühle: Um das Begehren nach einer besseren Welt, um tief empfundenes Unrecht oder eine leidenschaftlich verteidigte politische Utopie. Die historische Protestforschung habe den „emotional turn“ jedoch nicht vollzogen und unterliege einem „rationalistischen Vorurteil“, kritisiert auch der Historiker Christian Koller. Infolgedessen werde die Entstehung sozialer Bewegungen als weitgehend emotionslose Geschichte beschrieben. Dass etwa kollektive Wut nicht selten der Anlass für Spontankundgebungen ist, würde zwar konstatiert, aber analytisch nicht weiter berücksichtigt.
Mixed feeling. Für die Schwarze Feministin Audre Lorde hingegen ist Wut über die Verhältnisse (die sie von destruktivem Hass abgrenzt) ein wichtiger Katalysator. In ihrem berühmten Aufsatz „The Uses of Anger“ zeigt Lordes eindringliche Argumentation, dass Wut, die sich in ihrem Fall nicht nur gegen institutionalisierten Rassismus, sondern auch gegen die Dominanz und Ignoranz weißer Feministinnen richtet, ein wichtiges Vehikel der Befreiung sein kann. Sie sei eine Emotion, die ihr beim Kampf für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit unschätzbare Dienste geleistet habe: „Jede Frau hat ein reiches Arsenal an Wut, damit kann sie gegen ebenjene individuelle und strukturelle Unterdrückung angehen, die die Wut hervorgerufen hat. Zielgerichtete Wut setzt Kraft und Energie frei, die dem Fortschritt und der Veränderung dienen.”
Es ist kein destruktives Wüten, von dem Lorde schreibt, das verbrannte Erde hinterlässt und Beziehungen beendet. Sondern diese Wut zielt darauf ab, ungleiche Beziehungen gleichberechtigt zu machen. „Wer darauf besteht, gehört zu werden, besteht darauf, in einer Beziehung (…) zu stehen“, schreibt auch Pia Klemp in ihrer Wutschrift. (Vgl. auch S. 18)
Diese Art Wut hat wahrscheinlich mehr mit Liebe (zu einer Sache) als mit Hass (auf ein System) zu tun, um emanzipatorisch transformativ wirken zu können. Als „mixed feeling“ will sie Veränderung erreichen und nicht Verachtung zum Ausdruck bringen. Anders als dem Zorn rechter Wutbürger geht es ihr nicht um Ressentiment, sondern um Respekt, nicht um die Sicherung von Privilegien, sondern um das Erkämpfen von Partizipation.
Bei aller Legitimität des gerechten Zorns darf dieser sich jedoch nicht um die Anstrengung drücken, einen probaten und produktiven Ausdruck zu suchen. Auf solche Art entfesselt, kann das Wüten der roten Bärin vielleicht wirklich viel voranbringen. •
2 Kommentare zu „Die rote Bärin“
Vielen Dank! Das hat mir gerade sehr geholfen.
Der Film „Turning Red“ versucht, die Auseinandersetzung mit pubertären Gefühlen durch den roten Panda als Metapher aufzuzeigen. Es ist eine schöne und einzigartige Art, das Gefühl der Wut und die damit verbundene Unsicherheit und Unkontrollierbarkeit zu unterstreichen.
Profissional em Cobranca Indevida na Caixa Economica Federal em Parque Sao Paulo Campinas SP, Brasil – BR