Für den europäischen Feminismus war lange nur die Frauenfrage von Bedeutung. Der herablassende Blick auf andere Befreiungsbewegungen hat in der Geschichte des modernen Europas System, analysiert Antje Schrupp.
Historische Fehler der Frauenbewegung – wer wollte bestreiten, dass es die gegeben hat. Über vieles, was da zu Tage kommt, lässt sich schmunzeln, anderes ist geradezu haarsträubend. Wenn sich feministische Ideen über historische Distanzen hinweg begegnen, führen sie in gewisser Weise einen interkulturellen Dialog. Das Verständnis ist nicht unmittelbar und direkt. Weder können wir einfach unsere eigenen analytischen Kategorien auf historische Texte anlegen noch dürfen wir achselzuckend sagen: „Damals war das eben so.” Sondern es gilt zu fragen: Wo auf dem Spektrum der zu einer bestimmten Zeit vertretenen Positionen befindet sich die jeweilige Denker*in oder Aktivist*in? Hat sie trotz zeitgenössischer Kritik an problematischen Standpunkten festgehalten? Oder urteilen wir heute aufgrund von Debatten und Informationen, die sie noch nicht hatte?
Modell der brüderlichen Gleichheit. Ich beschränke mich hier auf eine Kritik an feministischen Bewegungen der europäischen und US-amerikanischen Moderne. Zumal viele der heute diskutierten Irrtümer und Verfehlungen eines „weißen Feminismus“ speziell auf diesen Kontext zurückzuführen sind.
Ich würde sogar behaupten, dass der Ursprungsfehler des modernen Feminismus genau dort liegt: in dem Glauben, das einzige Problem der bürgerlichen Gesellschaft sei der Ausschluss von Frauen aus der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ der Männer. Der europäische Feminismus ist in weiten Teilen eine Reaktion auf das historische Ereignis der Französischen Revolution 1789. Heute würde vermutlich die große Mehrheit europäischer Feminist*innen zustimmen, dass die Diskriminierung von Frauen mit anderen Differenzachsen zusammengedacht werden muss – Stichwort Intersektionalität. Doch zeitgeschichtlich hatte die Fokussierung auf die „Frauenfrage“ einen Grund. Denn mit der Idee von der „brüderlichen Gleichheit“ aller Männer wurde – auch wenn diese Gleichheit in der Realität kaum irgendwo umgesetzt wurde – das weibliche Geschlecht in der politischen Theorie zum einzigen Merkmal des „Anderen“. Das brachte eine neue Qualität von patriarchaler Ordnung mit sich – und viele der problematischen Positionen weißer bürgerlicher Frauen entwickelten sich von diesem Punkt aus.
Da wäre zunächst die Fixierung auf formale Gleichstellung und die Forderung nach dem Wahlrecht – die „Suffragetten” fungierten ja geradezu als Synonym für Feminismus. Aber weder für Menschen aus der Arbeiter*innenklasse noch für rassistisch Unterdrückte war die Frage des Wahlrechts von drängender Wichtigkeit. Die meisten Menschen erlebten Diskriminierung aus den unterschiedlichsten Gründen und auf vielen Ebenen und kamen sowieso nicht in den Genuss „bürgerlicher“ Rechte, auch nicht, wenn sie Männer waren.
Dass andere Hierarchien – entlang von kapitalistischer Ausbeutung, kolonialer Unterdrückung, rassistischer Menschenverachtung, sozialer Distinktion und vielem mehr – existierten, war den Frauenrechtler*innen durchaus klar. Aber die Diskriminierung von weißen bürgerlichen Frauen war insofern etwas Neues, als hier das Geschlecht zum einzigen Kriterium wurde. Ihre Blindheit für intersektionale Verwobenheiten ist nicht (nur) eine Frage persönlicher Ignoranz der Akteurinnen, sondern strukturell in die politische Geschichte des modernen Europa eingewoben: Niemand außer weißen Bürgerinnen wird ausschließlich wegen des Geschlechts diskriminiert.
Herablassender Blick. Tatsächlich waren die Verbindungslinien und Beziehungen zwischen Frauenbewegung und Arbeiter*innenbewegung, zwischen Frauenbewegung und Abolitionismus zunächst stark und vielfältig und entwickelten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinander. Und, dies muss zur Ehrenrettung feministischer Bewegungen auch gesagt werden: Auch aus der weißen bürgerlichen Frauenbewegung selbst heraus gab es zu jeder Zeit vielfältigen Widerspruch und Protest gegen die sich herausbildende Engführung. Doch im Großen und Ganzen entwickelten bürgerliche Feminist*innen einen zunehmend herablassenden Blick auf alle Kulturen und soziale Bewegungen, in denen eine Gleichberechtigung der Geschlechter nicht im Zentrum stand.
Das betraf zum einen das proletarische Milieu, insofern sie Arbeiterinnen zwar für die Sache des Wahlrechts gewinnen wollten, die soziale Frage aber höchstens aus einer karitativen Perspektive angingen. Es betraf aber auch den Blick auf die Kolonien, denn gefangen in der „Zwei-Sphären”-Ideologie, wonach die strikte Trennung zweier Geschlechter in unterschiedliche Wirkungssphären die „natürliche“ und damit einzig mögliche Geschlechterordnung sei, erkannten oder verstanden die meisten weißen Frauenrechtlerinnen nicht, was für eine Katastrophe die Kolonisierung für die Menschen dort bedeutete. Und zwar besonders für die „frauisierten“ unter ihnen, also jene, die aufgrund ihrer Körper in ein europäisch-bürgerliches Modell von Weiblichkeit gepresst wurden, mit allen dazugehörigen patriarchalen Implikationen. Stattdessen unterstützten viele weiße Feministinnen das rassistische Narrativ von der europäischen Kultur als Vorreiterin von „Zivilisation” und sogar „Frauenrechten“.
Mütterliche Tugenden. Neben dem auf Rechte fokussierten Feminismus entstand aber noch ein anderer, komplementärer Irrweg moderner Frauenbewegungen, und zwar der Versuch, weibliche Freiheit über eine spezielle Betonung weiblicher oder mütterlicher Tugenden voranzubringen. Er findet sich in der bürgerlichen Frauenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch später im Ökofeminismus oder unter Matriarchatsfeministinnen. Diese Strömungen übten mehr anti-bürgerliche Systemkritik als die Gleichstellungs-Feministinnen, und sie interessierten sich durchaus für andere als weiß-bürgerliche kulturelle Traditionen. Doch es gelang ihnen nicht, sich auf eine Zusammenarbeit oder gegenseitige Bereicherung einzulassen. Stattdessen projizierten sie zumeist eigene Sehnsüchte und Ideologien in vermeintlich „naturnahe” Kulturen hinein. Indem sie Weiblichkeit als Gegenpol zu bürgerlicher Männlichkeit verstanden, kamen auch sie nicht darüber hinaus, diese nur zu spiegeln.
Aus Irrtümern lernen. Noch immer fällt es den meisten Feminist*innen, die aus einer europäisch-bürgerlichen Tradition kommen, schwer, Freiheitsbestrebungen indigener, Schwarzer oder nicht-westlicher Frauen als solche zu erkennen und mit diesen Aktivist*innen in einen konstruktiven Austausch zu gehen. Doch wenn heute zum Beispiel von FLINTA* statt von Frauen die Rede ist, steht dahinter nicht nur der Wunsch, trans Männer und nicht binäre Personen in das feministische Subjekt einzubeziehen, sondern es ist auch als Versuch zu werten, das Gefängnis europäisch-bürgerlicher Geschlechterkonzepte zu verlassen und aus den Irrtümern der Vergangenheit zu lernen.
Bei all dem sollten wir uns jedoch immer darüber im Klaren sein, dass auch wir nicht das Ende der Geschichte sind, dass unser heutiger Wissensstand und die gegenwärtigen Prioritäten ebenfalls zeitgebunden und kontextuell sind. Wer weiß, was Menschen in hundert Jahren über unsere heute in bester Absicht geführten Debatten sagen werden. •
Antje Schrupp ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin.