DEBORAH FELDMAN erzählt in „Unorthodox“ von ihrem Ausbruch aus einer streng orthodoxen jüdischen Gemeinde in Williamsburg, Brooklyn. Interview: IRMI WUTSCHER
Keine Bücher, keine Musik, kein Sport, kein Spaß, kein Sex. So sieht das Leben eines Teenagermädchens in der jüdisch-chassidischen Satmar-Gemeinde in New York aus. Die orthodoxe Gruppierung wurde von Holocaust-Überlebenden aus Europa (wieder)gegründet, die glauben, die Assimilierung der europäischen Juden habe den Holocaust als göttliche Strafe über sie gebracht. Und die deshalb besonders fromm nach alten jüdischen Gesetzen leben. Für Mädchen und Frauen sind die Vorschriften besonders rigide. Sie haben kaum Freiräume, vor allem nicht außerhalb des Hauses, und sie werden einzig auf ein Leben als Hausfrau und Mutter vorbereitet.
Deborah Feldman ist in dieser Gemeinde aufgewachsen und aus diesem Leben ausgebrochen. In ihrem Buch „Unorthodox“ erzählt sie von einer einsamen Kindheit und von ihrer arrangierten Ehe samt reglementiertem Sexleben.
an.schläge: Wie ist das Leben für ein Mädchen in der Satmar-Gemeinde?
Deborah Feldman: In dieser Gemeinschaft sind die Geschlechter komplett getrennt, das heißt, die Mädchen gehen in eine religiöse Mädchenschule und die Jungen in eine andere. Die Jungs lernen Thora und Gebet und die Mädchen lernen, geschickte Hausfrauen zu werden. Sie lernen auch alle jüdischen Gesetze, die mit dem Haushalt zu tun haben. Sie müssen immer entweder in der Schule oder zu Hause sein. Auf der Straße dürfen sie nicht laut lachen oder reden, auf keinen Fall singen oder Sport treiben. Kommt ihnen ein Mann entgegen, müssen sie zur Seite treten. Und man hat nur eine Option als Frau: Man wächst auf, um Mutter und Hausfrau zu werden und viele Kinder zu gebären.
Das Leben der Jungs spielt sich komplett anders ab?
Sie werden fast genauso eingeschränkt, aber trotzdem höhergestellt. Sie sind die „Prinzen“ in dieser Gemeinschaft. Die Männer lernen, studieren und beten und verdienen sich dabei etwas für das Leben nach dem Tod. Die Frauen sind zu Hause und organisieren, waschen, kochen und bügeln. Die Männer machen also etwas Wichtiges, die Frauen sind nebensächlich. Das spiegelt sich in allen Bereichen wider.
In Ihrer Biografie heißt es, Ihre Muttersprache sei jiddisch. Englisch haben Sie als Zweitsprache gelernt?
In der Gemeinde bekommt man eingeschränkten Englischunterricht. Mädchen können nach der Schule ungefähr so gut Englisch wie ein durchschnittlicher US-Amerikaner in der dritten Klasse. Ich habe als Kind heimlich Bücher auf Englisch gelesen, dadurch hat sich mein Englisch sehr verbessert.
Ich hatte aber einen sehr starken Akzent. Jetzt lebe ich ja in Deutschland, in Berlin, und versuche mein Jiddisch auf Deutsch zu übertragen. Eigentlich ist das sehr seltsam, weil ich in meinem Gehirn nur einen Platz für beide Sprachen habe. Das Deutsch ersetzt das Jiddisch, das ist ein bisschen erschreckend: Man verliert die Muttersprache, irgendwie.
Bücher waren für Sie sehr wichtig, um auszubrechen …
Bücher haben mir eine Perspektive gegeben, die mir fehlte. In allen Kinderbüchern gibt es ProtagonistInnen, die arm sind, missverstanden und gemobbt werden. Und dann kommt jemand und rettet dieses Kind und alles wird gut. Ich dachte, genauso wird es mir passieren. Wenn man älter wird, lernt man, dass das eine Metapher ist, dass dieser Held in einem selbst ist. Ich habe das verstanden, aber nicht genug an mich geglaubt. Als mein Sohn geboren wurde, wurde mir klar: Ich kann für ihn Heldin sein.
Wo war der Punkt, an dem Sie gesagt haben: „Ich muss hier raus“?
Als ich zum ersten Mal ins Gesicht meines Sohnes geblickt habe. Da ist mir klar geworden: Er soll ein besseres Leben haben, als ich es bisher hatte. Dann musste ich viele praktische Dinge erledigen: einen Schulabschluss machen, die Universität besuchen, einen Job finden, eine Wohnung mieten. Das habe ich in drei Jahren abgehakt, hatte aber Angst, den letzten Schritt zu tun. Dann hatte ich einen Unfall, mein Auto hat sich dreimal überschlagen. Ich dachte währenddessen, dass Gott mich straft, dass ich jetzt sterbe und dass das auch gerecht ist. Aber ich habe ohne einen Kratzer überlebt. Ich bin aus dem Auto rausgekrochen und habe mir gedacht: Deborah, du hast jetzt etwas ganz Schlimmes überlebt, das heißt, du kannst noch viel mehr überleben.
Sie waren vorher in der Gemeinde schon Außenseiterin, weil Ihre Mutter weggegangen war und auch Ihr Vater nicht mit Ihnen zusammengelebt hat. War es dadurch leichter für Sie zu gehen?
Das ist eine sehr konformistische Gemeinschaft, und man muss genau so sein wie vorgeschrieben. Wenn man in diesen engen Raum nicht reinpasst, ist man schon am Rand. Am Rand ist es einsam und elend und man hat nicht viel zu verlieren. Es ist nicht so, dass ich meine Gemeinschaft abgelehnt habe, die haben mich abgelehnt! Das hat dazu geführt, dass ich diesen letzten kleinen Faden zerrissen habe.
Und Sie haben die Gemeinde komplett hinter sich gelassen?
Ich habe absolut keinen Kontakt mehr. Das ist auch besser so. Ich kenne andere, die die Gemeinschaft verlassen haben, aber noch ein bisschen Kontakt haben. Die wurden sehr verletzt, schikaniert … Viele haben sich umgebracht. Es ist schon schwer genug, in die neue Welt hineinzukommen, sich da ein Leben aufzubauen. Wenn man dann noch Kontakt hat, dann schaffst du den Weg hinüber nicht.
Sie schreiben über Ihre arrangierte Ehe und auch relativ explizit über das Sexleben in dieser Ehe. Warum?
In dieser Gemeinschaft wurde meine Privatsphäre verletzt. Mein Körper war nicht mein Eigentum. Ich habe mit sehr viel Scham und Schuld gelebt. Die Gemeinde hat mir eingeredet, dass das Problem bei mir lag, weil ich mit 17 nicht mit einem quasi fremden Mann schlafen wollte. Aber was passiert ist, war absolut menschlich. Indem ich meine Geschichte aufschreibe, nehme ich meinen Körper wieder in Besitz.
Gibt es für Frauen in traditionellen, patriarchalen Gemeinschaften mehr Gründe auszubrechen als für Männer?
Auch Männer verlassen die Gemeinschaft, aber aus anderen Gründen. Viele sagen, sie haben eine Glaubenskrise. Oder sie wollen Filme ansehen oder mit mehreren Frauen schlafen. Bei den Frauen, die ihre Gemeinschaft verlassen, geht es oft um die Kinder. Oder dass sie körperliche Freiheit haben wollen. Männer haben in der Gemeinde schon ein gewisses Maß an Privatsphäre, sie gehen also aus anderen Gründen, und die sind auch wichtig.
Für mich liest sich „Unorthodox“ wie ein feministisches Buch: den eigenen Körper zurückerobern, das Leben selbst bestimmen. Bezeichnen Sie sich als Feministin?
Es ist auf jeden Fall ein feministisches Buch, und ich bin auf alle Fälle Feministin. Es ist schade, dass es so eine kontroversielle Sache ist, das zu sagen, dass Leute sich so bedroht fühlen, wenn sie das hören.
Mittlerweile leben Sie in Berlin. Warum?
Ich habe lange in New York gelebt, es war nicht angenehm, dass Vergangenheit hinter jeder Ecke lauert. Für mein zweites Buch war ich auf Spurensuche in Europa, denn ich wollte verstehen, was für ein Leben meine Großmutter vor dem Krieg geführt hat. Ich habe Berlin öfter besucht und hatte immer das Gefühl, dass es ein besonderer Ort ist. Dass dort Leute ohne Wurzeln gut hineinpassen. Als ich dann einmal ins Flugzeug zurück nach Amerika eingestiegen bin, hatte ich das Gefühl, es ist falsch. Dann habe ich meinen Sachen gepackt und bin langsam umgezogen. Seit ich in Berlin wohne, fühle ich mich zum ersten Mal im Leben zu Hause. Das ist ein seltsames Gefühl, denn ich dachte, dass ich dazu verurteilt bin, mich nie wieder heimisch zu fühlen.
In einem Interview sagten Sie, Sie hätten noch viel nachzuholen. Findet man Sie jetzt im Berghain?
In den Clubs war ich nie, ich bin jeden Tag um acht im Bett! Nachholen bedeutet Fahrrad zu fahren, im Wald zu wandern, Freundschaften aufzubauen … Nachholen ist das Leben auszukosten!
Was möchten Sie noch tun?
Ich habe zwei Mal über meine persönlichen Erfahrungen geschrieben. Jetzt möchte ich einen richtigen Roman schreiben!
Deborah Feldman (geb. 1986 in New York) ist Autorin und lebt in Berlin. Die autobiografische Erzählung „Unorthodox“ war ein internationaler Bestseller. Feldmans zweites Buch „Exodus“ ist auf Englisch bei Penguin erschienen.
Deborah Feldman: Unorthodox
Secession Verlag 2016, 22,60 Euro
www.deborahfeldman.com
1 Kommentar zu „„Auf alle Fälle Feministin““
“Die orthodoxe Gruppierung wurde von Holocaust-Überlebenden aus Europa (wieder)gegründet”
Es ist eine ULTRA-orthodoxe Gruppe – und sicherlich die extremste überhaupt.