In Leipzig wurde ein Archiv der queer-feministischen Zeitgeschichte gegründet. Warum Flyer und Plakate kein Altpapier sind und wo diese abgegeben werden können, erklären KATRIN BUB und JESSICA BOCK.
„Die Geschichte aller Zeiten, und die heutige besonders, lehrt, dass diejenigen auch vergessen wurden, die an sich selbst zu denken vergaßen.“ Mit diesen wenigen Worten hat Louise Otto Peters (1), eine zentrale Figur der deutschen Frauenbewegung, die Bedeutung einer feministischen Erinnerungskultur zusammengefasst. Denn feministische Traditionsbildungen fußen auf der Kenntnis der eigenen Geschichte. Diese wiederum kann nur auf der Grundlage der Quellen geschrieben werden, die in Archiven oder auch Museen aufbewahrt werden. Das Zitat von Louise Otto Peters zeigt, dass bereits die Frauenrechtlerinnen der Frauenbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit von Frauenarchiven und -bibliotheken erkannt haben, um das erworbene Wissen und die Erfahrungen für die künftigen Generationen aufzubewahren. Demnach war die Dokumentation der eigenen Bewegung ein fester Bestandteil des frauenrechtlerischen Aktivismus. Diese Tradition wurde von Feministinnen der 1970er- und 1980er-Jahre wieder aufgegriffen und fortgesetzt. In diesen beiden Jahrzehnten wurden zahlreiche feministische Archive gegründet, z.B. Spinnboden in Berlin, das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel oder das Stichwort Archiv in Wien.(2) Sie bewahren historische Dokumente wie Plakate, Flyer, Fotos oder Broschüren, die für die historische Erforschung der größten sozialen Bewegung des letzten Jahrhunderts unverzichtbar sind.
Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten haben sich feministische Bewegungen inhaltlich und strukturell stark ausdifferenziert. Neue Organisations- und Aktionsformen sind entstanden, neue Möglichkeiten des Protestes (z.B. Slutwalks) wurden erprobt. Nicht zuletzt wandelten sich die Muster der Kommunikation, Aktion und Inszenierung feministischer Gruppierungen mit dem Web 2.0 erheblich (siehe z.B. #aufschrei).
Abenteuerliches Spektrum. Doch die jüngere Vergangenheit dieser nunmehr äußerst heterogenen feministischen Bewegungen ist bislang kaum systematisch dokumentiert, geschweige denn aufbereitet worden. Droht ihr das Vergessen? Um dem entgegenzuwirken, hat die Leipziger Frauen- und Genderbibliothek MONAliesA im vergangenen Jahr ein queer-feministisches Archiv gegründet. Hauptzweck dieses Spezialarchivs ist eine möglichst breite Dokumentation der queer-feministischen Zeitgeschichte (3), insbesondere ihrer Gruppierungen und Aktionen, im deutschsprachigen Raum. Die Sammlungen des Archivs sollen ein umfassendes (für klassische Archive bisweilen geradezu „abenteuerliches“) Spektrum an Gegenständen sub- und popkultureller queer-feministischer Provenienz umfassen. So finden sich bereits Plakate, Flyer, Programmhefte, Protokolle, Fanzines, Fotos, Interviews, Aufnäher, Aufkleber, Beutel und Kleidungsstücke im Archiv. Aber die Archivierung manch virtueller (Homepages, Blogs, Tweets etc.) und auch materieller Stücke (etwa ein Blumenkranz von Femen) stellt das Archiv freilich vor gewisse Herausforderungen.Im queer-feministischen Archiv sollen außerdem Zeugnisse von trans*- und intersexuellen Menschen und Bewegungen systematisch gesammelt werden, um ihre Lebenswelten und Erfahrungen sowie ihr Engagement für Geschlechtergerechtigkeit zu würdigen und sichtbar zu machen. Denn bislang sind viele Informationen zu Lebens- und Alltagsbedingungen von trans*- und intersexuellen Menschen in Archivbeständen von Krankenhäusern und Psychiatrien aufbewahrt, die aber zumeist eher eine pathologisierende Geschichte denn eine emanzipative aus den Bewegungen heraus schreiben.
Bildungsarbeit. Jedoch reichen Bewahren und Erinnern queer-feministischer Bewegungen nicht aus. Das Gesammelte muss schließlich auch aufbereitet und vermittelt werden. Frauenarchive und -bibliotheken sind durch ihre gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit auch Bildungsorte, die eine gesellschaftliche Verantwortung innehaben.(4) Daher hat MONAliesA damit begonnen, eine feministische Archivpädagogik zu konzipieren. Diese Form der historisch-politischen Bildungsarbeit dient zunächst der Vermittlung vom Umgang mit Quellen (Methoden- und Quellenkompetenzen). In ihrer inhaltlichen Ausrichtung konzentriert sie sich dabei nicht nur auf die feministische Vergangenheit, sondern nimmt auch Bezug auf gegenwärtige gesellschaftspolitische Prozesse. Neben der Vermittlung diverser Kompetenzen in den Bereichen Quellen, Methoden, Recherche und Medien sind vor allem die Etablierung einer geschlechtergerechten Geschichtsdarstellung sowie die Stärkung einer queer-feministischen Erinnerungskultur wesentliche Anliegen eines solchen Angebots.
Bislang wurden zwei Workshops konzipiert. Am Beispiel von Ladyfesten und dem Medium Fanzines/Zines werden zeitgenössische Medien feministischer Bewegungen als Quellen erkannt und untersucht. Die Workshops sind einerseits für Aktivist_innen zur Sensibilisierung angelegt, um der eigenen Dokumentation mehr Bedeutung zuzuschreiben, und andererseits für Interessierte, die mit der Vielfalt feministischer Politiken noch nicht in Kontakt gekommen sind. So banal es klingt: Quellen der jüngeren queer-feministischen Geschichte sind nicht so leicht auffindbar. Was zum einen daran liegen mag, dass eine Vermittlung von Archiv-, Medien- und Informationskompetenzen nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft stattfindet. Zum anderen scheint jedoch auch die geringe Ausprägung eines feministischen Geschichtsbewusstseins in Teilen der queer-feministischen Bewegung für die bescheidene Sammelpraxis mitverantwortlich zu sein.
Gesamtgesellschaftliches Gedächtnis. Die Dokumentation von queer-feministischem Aktivismus bedeutet nicht nur, die eigene Geschichte zu legitimieren, sondern ein gesamtgesellschaftliches queer-feministisches Gedächtnis voranzutreiben. Deswegen ist es wichtig, dass sich das Wechselverhältnis zwischen Aktivist_innen und (feministischen) Archiven noch stärker ausbildet. Erst durch das Aufbewahren kann aus kurzlebigen Dingen wie Flyern und Veranstaltungen der Gegenwart eine langfristige Bedeutsamkeit feministischer Aktivitäten entstehen (5). Nun ist es als Archivar_in aber schwer, Materialien in großem Umfang alleine zu beschaffen. Archive sind daher darauf angewiesen, dass Aktivist_innen auf sie zukommen und ihre Schätze den Orten der Dokumentation überlassen. Kathleen Hanna, mit ihren Bands Bikini Kill und Le Tigre ein Riot Grrrl der ersten Stunde, hat ihre Zine-Sammlung beispielsweise der New Yorker Universitätsbibliothek geschenkt.
In der Frauen- & Genderbibliothek MONAliesA sind alle produzierten Gegenstände queer-feministischer Bewegungen ausdrücklich erwünscht und werden vor Ort sorgfältig sortiert und aufbewahrt. Jede_r Interessierte hat Zugang zum Archiv und kann daran mitwirken, es weiter auszubauen. So können wir unsere eigenen Geschichte(n) schreiben!
Katrin Bub ist Politikwissenschaftlerin, Mitbegründerin des Zinefest Berlin und vertreibt ihre Lieblingszines über das Distro „Heavy Mental“.
Jessica Bock ist Herzblutfeministin und Bibliotheks- und Geschäftsleiterin des MONAliesA e.V.
Fußnoten:
(1) Mehr über Louise Otto-Peters siehe louiseottopeters-gesellschaft.de.
(2) Eine Übersicht der deutschprachigen Frauen-/Lesbenbibliotheken und Archive bietet I.D.A. ida-dachverband.de/de_kurz-info.htm.
(3) Unter queer-feministischer Zeitgeschichte wird eine Epoche verstanden, deren Beginn 1990 mit dem Aufkommen der Queer-Theorie angesetzt wird.
(4) Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass herkömmliche Staats- und Landesarchive sich immer mehr als Bildungsinstanz wahrnehmen und dementsprechende archivpädagogische Angebote entwickeln.
(5) Vgl. Alison Piepmeier, Preface, in: Lyz Bly/Kelly Wooten: Make your own History. Documenting Feminist and Queer Activism in the 21st Century. Litwin Books 2012