„Toni Erdmann“ schleicht sich mit Humor zurück in das Leben seiner Tochter. Eine groteske Komödie für die Ewigkeit, findet FIONA SARA SCHMIDT
Nach einem für beide Seiten enttäuschenden Überraschungsbesuch von Winfried (Peter Simonischek) bei seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) entschließt sich dieser in Maren Ades Film, nicht wie geplant abzureisen, sondern taucht in der Rolle von „Toni Erdmann“ wieder auf. Toni schert sich nicht um Konventionen, sondern missachtet die Regeln des sozialen Miteinanders. Als „Krisenexperiment“ wird in der Soziologie ein solches Aufdecken von still akzeptierten Normen bezeichnet. Vermeintliche Normalität wird erst durch das Brechen dieser gesellschaftlichen Grundregeln sichtbar. Anders als beim klassischen Krisenexperiment spielt Ines nach dem ersten Entsetzen die Groteske mit und lernt ihren Vater als Toni ganz neu kennen.
Neustart. Der Musiklehrer Winfried mit Hang zu frechen Witzen und falschen Zähnen hat den Draht zu seiner Tochter längst verloren. Ines arbeitet als Unternehmensberaterin in Bukarest, schläft in jeder freien Minute erschöpft ein und hängt auf Familienfesten ständig am Handy. Der spontane Besuch in Rumänien nach dem Tod von Winfrieds Hund soll das Verhältnis wieder bessern. Doch Ines steht ein wichtiger geschäftlicher Abschluss bevor, für den sie sich auch nicht zu schade ist, mit der Frau des Kunden zum Shoppingcenter zu fahren. Der Alt-Achtundsechziger Winfried sieht das freilich anders und findet, dass Ines ihr Glück der Karriere unterordnet und sich einem neoliberalen Weltbild unterwirft. Er sucht einen kreativen Weg, um Ines zu erreichen, den Regisseurin Maren Ade als gewagte Taktik beschreibt: „Winfried befreit sich mit Toni aus dieser Misere, indem er dieses radikale Angebot macht. Er hat nur seinen Humor als Waffe und den beginnt er voll einzusetzen. Daraus entsteht ein härteres Spiel, und weil Ines auch ein harter Hund ist, spricht er damit plötzlich eine Sprache, die sie verstehen kann.“
Rollenspiele. Toni Erdmann trägt schlecht sitzende Anzüge und eine schiefe Langhaarperücke, spricht Kauderwelsch-Englisch und stellt sich selbst entweder als „Unternehmensberater und Coach“ (von Ines’ Chef!) oder deutscher Botschafter vor. Ines wird auf schicken Empfängen als „meine Assistentin Miss Schnuck“ eingeführt. Der Film dröselt konsequent und glaubhaft die Mechanismen der internationalen Wirtschaftselite auf, in der Kolleg_innen und Service-Bedienstete die einzigen sozialen Kontakte sind. Es geht in dieser Welt vornehmlich um reines impression management, wie es der Soziologe Erving Goffman nennt. Da ist es nur logisch, dass sich Ines’ Assistentin nach ihrer „Performance“ erkundigt. Mit ihren Kollegen reißt Ines sexistische Witze und sagt trocken zu ihrem Vorgesetzten: „Ich bin doch keine Feministin, sonst würde ich es mit Typen wie dir nicht aushalten.“ Eigentlich wollte sie längst in Singapur sein, doch sie hängt in Bukarest fest, Armut sieht sie nur aus dem Bürofenster und netzwerkt nach Feierabend mit internationalen Businessleuten („I like countries with a middle class, they are relaxing me“).
Gesangseinlage. Mit Toni verlässt Ines erstmals ihre kontrollierte Wirtschafts-Blase, bemalt Ostereier und kommt in Kontakt mit Rumän_innen. Nach und nach wird ihr bewusst, dass Selbstkontrolle nicht für Zufriedenheit sorgt. Der wie immer großartigen Sandra Hüller („Requiem“, „Finsterworld“) und Burgtheater-Legende Peter Simonischek gelingt es, dass knapp drei Stunden Vater-Tochter-Drama nicht in Verzweiflung kippen, im Gegenteil: Sandra Hüllers Gesangseinlage als „Whitney Schnuck“ ist so rührend, dass man noch zwei Stunden länger zuhören möchte.
Die Goldene Palme in Cannes hat die wilde Tragikkomödie knapp verpasst, es reichte aber für Kritiker_innenpreis und internationalen Verleih. Es wäre also durchaus möglich, dass bald mehr Toni Erdmanns aus dem Nichts auftauchen und ihre Töchter mit blöden Witzen in den befreienden Wahnsinn treiben.
Toni Erdmann
Regie: Maren Ade
D/Ö 2015, 162 Min.
Ab 14. Juli in den österreichischen und deutschen Kinos