Ein Kommentar von BETTINA ENZENHOFER
„Schafft Deutschland die Geschlechter ab?“, titelte Mitte August die „Bild“. Eine Gesetzesänderung erlaube es in Deutschland ab 1. November, den Geschlechtseintrag im Personenstand bei einem „uneindeutigen“ Geschlecht offen zu lassen. Auch laut „taz“, „Guardian“ und „Huffington Post“ müsse bei intersexuellen Babys nun kein Geschlecht mehr eingetragen werden. Auslöser für das plötzliche mediale Rauschen war ein Artikel in der „SZ“, nach dem es das neue Personenstandsrecht intersexuellen Menschen „ersparen“ würde, „sich eindeutig zu einem Geschlecht bekennen zu müssen“. Es verwundert nicht, dass derartige Schlagzeilen unter Feminist_innen rasch die Runde machten – und die scheinbare formelle Abschaffung der Geschlechter von ihnen bejubelt wurde.
Tatsächlich hat die Neuregelung des Personenstands aber ihre Tücken. Zuallererst: Von einer Wahlfreiheit kann keine Rede sein. „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen“, wird es demnächst im Personenstandsgesetz §22, Absatz 3 heißen. Der Geschlechtseintrag intersexueller Neugeborener muss also künftig offen bleiben. Das kritisierten Intersex-Vereinigungen schon im Februar, auch einzelne Medien wie z.B. die an.schläge wiesen bereits im Frühling auf diesen Umstand hin. Intersex-Organisationen fordern anderes: beispielsweise einen provisorischen Geschlechtseintrag, die Option auf einen offenen Geschlechtseintrag für alle Menschen oder die vollkommene Streichung des Geschlechtseintrags im Personenstand. Auch der Deutsche Ethikrat gab 2012 in einer Stellungnahme die Empfehlung ab, „anderes“ wählen bzw. den Geschlechtseintrag offen zu lassen zu können – von Zwang war keine Rede.
Mit der neuen Regelung befürchten Intersex-Vereinigungen nun insgesamt eine Verschlechterung: Eltern und Ärzt_innen würden nun noch eher in kosmetische, nicht-lebensnotwendige Operationen einwilligen, die aus einem „uneindeutigen“ Geschlecht ein „eindeutiges“ konstruieren. Außerdem bleibe die Definitionsmacht darüber, welcher Körper als „weiblich“ oder „männlich“ kategorisiert wird, mit der rechtlichen Neuregelung noch immer in den Händen der Medizin. Und anstatt die dringendsten Forderungen intersexueller Menschen zu diskutieren – etwa dass unter Wahrung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit nicht-lebensnotwendige, traumatisierende Operationen ohne Einwilligung der Betroffenen verboten werden müssen –, finden wir uns in einer Debatte wieder, die allein auf der Ebene von geschlechtlichen Identitäten stattfinde, so die Kritik. Durch die neue Sondervorschrift würden erneut Ausschlüsse produziert, äußert sich die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen in einer Pressemitteilung: „Die Lebenssituation der allermeisten intergeschlechtlichen Menschen wird sich dadurch nicht verbessern.“
Natürlich kann man einwenden, das deutsche Recht würde nun zumindest die Existenz intersexueller Menschen anerkennen und dass dies ein erster Schritt in die richtige Richtung sei. Und möglicherweise führt die Neuregelung in weiterer Folge zu einer Überarbeitung aller Gesetze, die auf einer binären Vorstellung von Geschlecht fußen – beispielsweise des Eherechts. Dass das Hinterfragen der Zweigeschlechtlichkeit im Recht aber auf dem Rücken Intersexueller ausgetragen und bejubelt wird, ohne sich mit den Lebensrealitäten intersexueller Menschen auseinanderzusetzen, ist keinesfalls zu goutieren – nach wie vor werden ihre Rechte massiv verletzt. Im Übrigen war das deutsche Recht in puncto medizinischer Definitionsmacht und Personenstand schon mal bedeutend weiter: „Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem Geschlechte sie erzogen werden. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle“, heißt es im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794.
1 Kommentar zu „an.sage: Vom Müssen und Dürfen“
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