Hip-Sein auf Hartz IV. KATJA KULLMANN hat ein Buch über die Kreativszene geschrieben. Von LEA SUSEMICHEL
Über die neue Bürgerlichkeit des „Bionade-Biedermeier“ ist zuletzt viel geschrieben und gelästert worden. Denn der Hang zu Retro ist bei den längst nicht mehr nur im Prenzlauer Berg lebenden „Neo-Kons“ bei Brille und Bogenlampe nicht stehengeblieben, auch sonst lässt sich eine Rückkehr zu Altbewährtem beobachten. Die wieder in Mode gekommenen Kinder werden in den Klavierunterricht geschickt, und der große Holztisch in der Küche rückt erneut ins Lebenszentrum.
Einiges geschrieben wurde auch über das neue Prekariat. Es ist nicht mehr ausschließlich proletarisch, armutsgefährdetsind inzwischen auch viele Gutausgebildete. Doch obwohl Christiane Rösinger schon fragte: „Ist das noch Bohème oder schon Unterschicht?“, wurde die nicht unerhebliche Schnittmenge zwischen Kulturprekariat und den freien Kreativen bislang außerhalb der Mayday-Bewegung wenig zur Kenntnis genommen. Auch Katja Kullmann zitiert die Zeile von Rösinger in ihrem Buch, das sie nun über diese Schnittmenge geschrieben hat. Kullmann war als freiberufliche Journalistin und Autorin durchaus erfolgreich, bevor sie zur Hartz IV-Empfängerin wurde. Damit ist sie nicht die einzige in ihrem Umfeld, und auch die mitfühlende Sachbearbeiterin auf dem Amt bestätigt ihr, dass es mittlerweile sogar Tatort-Schauspieler treffen kann.
In „Echtleben“ – das ausgerechnet beim gerade pleite gegangenen Eichborn-Verlag erschienen ist – erzählt Kullmann davon, wie sich die freelancenden Kreativen, Intellektuellen und Alternativen einst ihr Leben und ihre Arbeit vorgestellt hatten: „Im Karl Marx’schen Sinne nicht zu weit entfremdet, aber im Norbert Blüm’schen Sinne noch halbwegs abgesichert.“ Um dann mit spätestens Vierzig die zur Warenform gewordene Konformität des eigenen Lebensstils und die finanzielle Prekarität der Projektarbeit erkennen zu müssen.
Das aus einzelnen essayartigen Kapiteln bestehende und deshalb nicht immer ganz stringent erzählte und argumentierte Buch liefert über weite Strecken launige Milieustudien und ein pittoreskes Panorama der unterschiedlichsten ProtagonistInnen urbaner (Sub-)Kultur. Die anekdotischen Analysen jener, die „augenzwinkernd Königsberger Klopse kochen“ oder militant vegan leben („Hanf-Mode, Holundersaft, Heimat-Tourismus“) sind durchwegs sehr unterhaltsam. Doch die eigentliche Stärke des Buchs liegt darin, dass Kullmann es bei diesen Szeneschilderungen nicht belässt. Immer wieder sind ihre Beobachtungen auch soziologische Mikrostudien von fast Bourdieuscher Schärfe. Popliterarisch pointiert wird erklärt, wie soziale Distinktion in Zeiten funktioniert, in denen Fußkettchen sowohl von Hippies als auch von der Schickeria getragen werden, oder was das Üble an Gentrifizierung ist. Und es wird vor allem deutlich gemacht, was die neoliberale Politik von Rot-Grün und Agenda 2010 in Deutschland angerichtet haben. Denn obwohl der Untertitel lautet: „Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“, positioniert sich die Autorin erfreulich eindeutig. Gegen eine Politik, die wenige reich und viele andere immer ärmer werden lässt, die das Solidarprinzip aufkündigt und für die Hartz IV-BezieherInnen und MigrantInnen Leistungs- oder Integrationsverweigerer sind.
Dass Kullmann, die 2002 „Generation Ally. Warum es heute so kompliziert ist, eine Frau zu sein“ veröffentlicht hat, auch bekennende Feministin ist, wird dabei leider weniger explizit. Denn inwieweit neoliberale Prekarisierung Frauen in besonderer Weise trifft, wird zwar manchmal auf subjektiver, selten aber auf struktureller Ebene zum Thema gemacht. Letztendlich zeigt sich in Kullmanns Kampf für ein gutes Leben und ein gutes Gewissen aber doch auch eine klar feministische Haltung. Und trotz der Schonungslosigkeit, mit der sie ihre Szene seziert, sind ihr die, die weiter nach Alternativen suchen, allemal lieber als die anderen: „Die Leute sind doch eigentlich ganz in Ordnung.“
Katja Kullmann: Echtleben.
Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben.
Eichborn 2011, 17,95 Euro