ELIF SHAFAK widmet sich in ihrem Bestseller „Der Geruch des Paradieses“ intensiv dem Glauben und Zweifel, der spirituellen Suche und dem Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Von FIONA SARA SCHMIDT
„Das letzte Abendmahl des türkischen Großbürgertums“ im Istanbul von 2016 ist der Ausgangspunkt von Elif Shafaks Roman „Der Geruch des Paradieses“. Für Peri Nalbantoğlu war es ein langer Tag, sie wurde verletzt, als sie sich ihre gestohlene Handtasche zurückeroberte, und musste nicht nur sich selbst, sondern auch ihre aufgewühlte Tochter beruhigen. Aus der Tasche fiel ein Foto, das die Erinnerungen an Peris Studienzeit im Jahr 2001 in England wieder lebendig werden lässt und Peri genau wie die Leser_innen von der dekadenten Abendgesellschaft am Bosporus mit nach Oxford nimmt.
Drei Studentinnen. Auf dem Foto sind drei junge Frauen zu sehen, gemeinsam mit ihrem so charismatischen wie umstrittenen Professor Azur. Die zweifelnde Peri aus der Türkei, die iranische Atheistin Shirin und die ägyptisch-amerikanische, muslimische Mona interessieren sich für Feminismus und Glauben. Trotz aller Unterschiede ziehen sie in eine WG: Die Sünderin, die Gläubige und die Verwirrte, nennen sie sich. „Verwirrung können Türken am besten“, sagte Shafak in einem Interview, und tatsächlich sitzt ihre Protagonistin Peri in Oxford immer zwischen den Stühlen, genau wie zu Hause in Istanbul. Der Vater ist ein dem Raki zugeneigter Kemalist, die Mutter eine religiöse Muslimin, beide sind ständig in Diskussionen verstrickt mit Peri als Vermittlerin. Das geht so weit, dass Peri einen Plastik-Weihnachtsbaum des Vaters mit Gebetsketten und Kopftüchern der Mutter über Nacht umdekoriert, um ihre Eltern zu besänftigen. Peris Familie steht für eine Türkei, in der vieles Widersprüchliche gleichzeitig möglich ist und doch alle immer weiter auseinandertreiben. „Es gab eine Zeit“, schreibt Shafak auf „Spiegel online“, „in der man die Türkei für ein leuchtendes Vorbild für die gesamte muslimische Welt gehalten habe, „eine einzigartige Synthese östlicher Kulturen und westlicher, liberaler Demokratie“.
Doch das wird sich ändern. Dass der eine Bruder verhaftet und eingesperrt wird, der andere die Jungfräulichkeit seiner frisch angetrauten Frau anzweifelt, sind prägende Schlüsselmomente für die jugendliche Peri, welche die politische Entwicklung vorwegnehmen.
Engagierte Autorin. Im englischen Original und auf Türkisch heißt der Roman „Die drei Töchter Evas“. Shafak, die heute vor allem in London lebt, hat das Buch auf Englisch geschrieben. Wer ihren blumigen Stil auf Türkisch und auch in den deutschen Übersetzungen kennt, wird vom trockenen Humor und dem flüssigen Stil in Michaela Grabingers Übersetzung überrascht sein. Die Bestsellerautorin Shafak, die über Maskulinitätsdiskurse in der Türkei promovierte, wurde als Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors in Straßburg geboren und lernte nach der Scheidung der Eltern in den frühen 1970ern mit Mutter und Oma unterschiedliche Lebensentwürfe von Frauen kennen. Auf „Spiegel online“ sagt sie über ihre kürzlich verstorbene Großmutter: „Ihre Persönlichkeit war eine interessante Mischung: zutiefst spirituell, aber entschieden laizistisch; östlich, aber in Harmonie mit dem westlichen Lebensstil; selbst nicht sehr gebildet, aber eine große Befürworterin von Bildung und Freiheit für ihre Tochter und ihre Enkelin. Für mich symbolisierte sie eine Türkei, die eine einzigartige Synthese verschiedener Kulturen und Traditionen enthielt. Und so wie meine Großmutter heute, so ist auch diese Türkei gestorben.“
Laute Zwischentöne. In Oxford soll nicht über Religion, sondern über Gott diskutiert werden. Azurs Seminar steht nur ausgewählten Studierenden offen, die der Professor so zusammenstellt, dass möglichst kontroverse Diskussionen stattfinden. Ganz Coming-of-Age- Roman, bleibt die erotische Faszination für den Dozenten nicht aus und zerstört die Freundschaft der drei Töchter Evas. Noch vereint, gehen deren Diskussionen weit über das Klischee von der muslimischen Frau, zerrissen zwischen Orient und Okzident, hinaus und sind nicht nur spirituell anregend, sondern immer unterhaltsam zu lesen. Shirin ist sicher: „Wir Muslime durchleben zurzeit eine Identitätskrise, vor allem die Frauen. Und erst recht Frauen wie wir!“ „Soll heißen?“, fragt Mona. „Soll heißen: Frauen, die mehr als einer Kultur ausgesetzt sind. Wir stellen die richtig großen Fragen. Heul doch, Jean-Paul Sartre! Nimm das! Eine existenzielle Krise wie unsere hast du noch nie gesehen!“
Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Kein + Aber 2016, 25,70 Euro